Boucher; Gruppen ohne Peneios 23
Hiermit endet die geschlossene Tradition dieses Entwicklungsstranges;
wir stehen am Ende des Barock. Es bleiben noch einige schöpferische
Leistungen dieser Periode zu betrachten, die auch ohne Einbeziehung der
Figur des Peneios festgeschlossene Komposition und dramatische Kraft
der Darstellung vereinigen. Von den Schwierigkeiten einer solchen Kom-
bination war oben die Rede. Da ist die sehr geistreiche Tafel in Modena
(Abb. 39), die früher Tintoretto, neuerdings — mit nicht recht befriedigen-
der Zuschreibung — Schiavone gegeben wurde und in der, wie es scheint
ganz vereinzelt, die Verfolgung in Abwendung vom Beschauer, also in
Rückenansicht beider Figuren gegeben und so zu außerordentlicher transi-
torischer Kraft gesteigert wurde.1) Auch das große, kürzlich Jan Lys
zugeschriebene, aber wohl oberitalienische Bild der Akademie in Ravenna
(Abb. 40)2) zählt zu den eindruckvollsten, leidenschaftlichsten Darstellungen
des Themas; in ihm wird bei allem Sturm der Verfolgung die Geschlossen-
heit des Aufbääis höchst nachdrücklich betont: Die Beine der entsetzt
sich zurückwerfenden Daphne (Cignani könnte sie gekannt haben) ver-
schränken sich mit denen des in ,,unnatürlichem“, doch sehr ,.lebendigem“
Stand gegebenen Apollo zu einem an Gossaerts, Hubert Gerhards und
Rubens’ erotische Überfallszenen erinnernden Sockelgeflecht, im Zentrum
spricht der Zusammenprall der derb zupackenden mit der angstvoll zurück-
stoßenden Hand, wild flatternde Gewänder runden allenthalben die Gruppe,
der der triumphierende Amor zugesellt ist — alles so mit stürmischer Energie
durchtränkt, daß man das völlige Fehlen aller Verwandlungsanzeichen kaum
bemerkt. Schließlich hat auch der Mailänder Klassizist Andrea Appiani
(Abb. 41)3) bei Beschränkung auf die beiden Hauptfiguren in geschickter
Weise die Gruppe geschlossen, indem er Apollo mehr im Halten als im Laufen,
Daphne in schlanker Rückbiegung und unter schöner Einbeziehung des ab-
wehrend bildeinwärts geneigten Kopfes in die Gesamtsilhouette gab und durch
sehr bewußte Ordnung von drei flatternden Gewandpartien den Zusammen-
schluß kräftig rundete — ohne mit all dem das Gebiet transitorischer Ein-
stellung ganz zu verlassen.
1) Modena, Pinakothek, Kat. S. Ricci 1925, S. 91, eine der 14 dekorativen Szenen
Nr. 220—233. 1658 von Venedig nach Modena gekommen (als Tintoretto). Ridolfi, Mara-
viglie ed. v. Hadeln II, 52 (ebenso); Venturi, La galleria degli Estensi S. 240, 256; M. Pit-
taluga, 11 Tintoretto, Bologna s. a. S. 287; von der Bercken-Mayer, Tintoretto, München
1923, S. 54 (Schiavone?). Als Vorbild für die Daphne könnte der Rückenakt einer Par-
meggianino zugeschriebenen Zeichnung in den Uffizien gedient haben (Nr.1524, phot.
Braun, Stich von Mulinari in „Disegni original! . . . nella R. Gall, di Firenze" tav. XIV;
nicht aufgeführt bei L. Fröhlich-Bum, Parmeggianino, Wien 1921, und in der Tat wegen
erheblicher graphischer Schwächen nicht sicher ein Original); hier steht, wie es scheint,
Daphne als Symbol des Triumphes Amors an dessen Altar, den ein Mädchen unter dem
Schutz einer älteren Frau flieht (?).
2) Als Lys publiziert von A. Colasanti, Boll. d’Arte N. S. I, 1921. 28. Vorher „Ignoto
Romano“. .
3) Fresco aus der 1814 abgebrochenen Casa Prina-Sannazzaro m Mailand, Brera
Nr. 829 (Kat. 1930, S. 164). Gegenstück Apollo und Hyazinth.
Studien der Bibliothek Warburg, 23. Heft: Stechow
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Hiermit endet die geschlossene Tradition dieses Entwicklungsstranges;
wir stehen am Ende des Barock. Es bleiben noch einige schöpferische
Leistungen dieser Periode zu betrachten, die auch ohne Einbeziehung der
Figur des Peneios festgeschlossene Komposition und dramatische Kraft
der Darstellung vereinigen. Von den Schwierigkeiten einer solchen Kom-
bination war oben die Rede. Da ist die sehr geistreiche Tafel in Modena
(Abb. 39), die früher Tintoretto, neuerdings — mit nicht recht befriedigen-
der Zuschreibung — Schiavone gegeben wurde und in der, wie es scheint
ganz vereinzelt, die Verfolgung in Abwendung vom Beschauer, also in
Rückenansicht beider Figuren gegeben und so zu außerordentlicher transi-
torischer Kraft gesteigert wurde.1) Auch das große, kürzlich Jan Lys
zugeschriebene, aber wohl oberitalienische Bild der Akademie in Ravenna
(Abb. 40)2) zählt zu den eindruckvollsten, leidenschaftlichsten Darstellungen
des Themas; in ihm wird bei allem Sturm der Verfolgung die Geschlossen-
heit des Aufbääis höchst nachdrücklich betont: Die Beine der entsetzt
sich zurückwerfenden Daphne (Cignani könnte sie gekannt haben) ver-
schränken sich mit denen des in ,,unnatürlichem“, doch sehr ,.lebendigem“
Stand gegebenen Apollo zu einem an Gossaerts, Hubert Gerhards und
Rubens’ erotische Überfallszenen erinnernden Sockelgeflecht, im Zentrum
spricht der Zusammenprall der derb zupackenden mit der angstvoll zurück-
stoßenden Hand, wild flatternde Gewänder runden allenthalben die Gruppe,
der der triumphierende Amor zugesellt ist — alles so mit stürmischer Energie
durchtränkt, daß man das völlige Fehlen aller Verwandlungsanzeichen kaum
bemerkt. Schließlich hat auch der Mailänder Klassizist Andrea Appiani
(Abb. 41)3) bei Beschränkung auf die beiden Hauptfiguren in geschickter
Weise die Gruppe geschlossen, indem er Apollo mehr im Halten als im Laufen,
Daphne in schlanker Rückbiegung und unter schöner Einbeziehung des ab-
wehrend bildeinwärts geneigten Kopfes in die Gesamtsilhouette gab und durch
sehr bewußte Ordnung von drei flatternden Gewandpartien den Zusammen-
schluß kräftig rundete — ohne mit all dem das Gebiet transitorischer Ein-
stellung ganz zu verlassen.
1) Modena, Pinakothek, Kat. S. Ricci 1925, S. 91, eine der 14 dekorativen Szenen
Nr. 220—233. 1658 von Venedig nach Modena gekommen (als Tintoretto). Ridolfi, Mara-
viglie ed. v. Hadeln II, 52 (ebenso); Venturi, La galleria degli Estensi S. 240, 256; M. Pit-
taluga, 11 Tintoretto, Bologna s. a. S. 287; von der Bercken-Mayer, Tintoretto, München
1923, S. 54 (Schiavone?). Als Vorbild für die Daphne könnte der Rückenakt einer Par-
meggianino zugeschriebenen Zeichnung in den Uffizien gedient haben (Nr.1524, phot.
Braun, Stich von Mulinari in „Disegni original! . . . nella R. Gall, di Firenze" tav. XIV;
nicht aufgeführt bei L. Fröhlich-Bum, Parmeggianino, Wien 1921, und in der Tat wegen
erheblicher graphischer Schwächen nicht sicher ein Original); hier steht, wie es scheint,
Daphne als Symbol des Triumphes Amors an dessen Altar, den ein Mädchen unter dem
Schutz einer älteren Frau flieht (?).
2) Als Lys publiziert von A. Colasanti, Boll. d’Arte N. S. I, 1921. 28. Vorher „Ignoto
Romano“. .
3) Fresco aus der 1814 abgebrochenen Casa Prina-Sannazzaro m Mailand, Brera
Nr. 829 (Kat. 1930, S. 164). Gegenstück Apollo und Hyazinth.
Studien der Bibliothek Warburg, 23. Heft: Stechow
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