Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Overview
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
— 12 —

Dadurch, dass die gegenteilig angelegten Charaktere meist
in einer Familie leben, wurde ihr Rührwert für Ifflands Zeit-
genossen noch grosser. Um die Frage der Motivierung' gerade
dieser Entwicklung hat er sich nicht sonderlich gekümmert.
Heute würde dieser Mangel schon einem ziemlich naiven
Theaterbesucher auffallen. Natürlich ist infolge dessen eine
Menge von Wiederholungen gleichartiger Charaktere zu ent-
decken, deren Rührkraft Iffland erprobt hatte. Es erregte ihm
kein Bedenken, in neuen Schauspielen die Charaktereigenschaften
des Herrn Hofrat einmal in den Rock und die Rolle eines
Präsidenten zu stecken.
Die Rührung als Charakterisierungsmittel. In
vielen Fällen benützt Iffland auch die Rührung als ein Mittel
zur Charakterisierung, und zwar dient die Rührung meist zur
Kennzeichnung eines edlen Charakters. Es finden sich viele
Scenen, in denen die Weinenden noch ganz besonders auf ihre
Rührung aufmerksam machen und damit ihre Vorzüglichkeit
andeuten. Der echte Ifflandische Mbralheld ist über alles Gute,
Edle und Schöne gerührt, und eben durch seine Rührung be-
weist er seine Tugendhaftigkeit. Beispiele für diese Eigen-
tümlichkeit finden sich' bei Iffland in jedem Auftritte, und es
Würde überflüssig sein, sie besonders herauszuheben.
Klarer wird die Art der Iffländischen Rührcharakteristik
noch, wenn man ihre gegenteilige Anwendung ins Auge fasst.
Um einen unmoralischen Charakter zu kennzeichnen, lässt ihn
Iffland oft dort nicht gerührt sein, wo der moralische Rührung
zeigen würde. Wer nicht mit Anderen gerührt ist, wird da-
mit als „mauvais sujet" gekennzeichnet; wer 'die Rührstimmung
Anderer verlacht, richtet sich selbst damit; Wer aber gar die
fromme Rührung Anderer zu egoistischen Zwecken ausnützt,
wird sicher im fünften Aufzuge bestraft. Nur ein Bösewicht
verlacht die Rührungsthränen Anderer 9, und nennt sie weg-
werfend „Romanwasser". 2) Durch erheuchelte Thränen versucht

i) Vermächtnis, IV. 3.

2) Vermächtnis, III. 6.
 
Annotationen