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54

Das Familienleben

sich dann auch aus Charaktereigenschaften, die bereits früher vor-
handen, fetzt einen schauerlichen Grad von Schärfe annehmen. Geiz
und Zwischenträgerei, Mißgunst und aufgespeicherter Haß gewinnen
dämonische Züge, wenn man solche Wesen weiterleben ließ, setzte
man sich dann nicht der Gefahr aus, daß sie nach ihrem Tode den
Lebenden als noch furchtbarere Gespenster zusetzen würden?
Lin lebendiges Beispiel der Gefahren, die das höchste Alter mit sich
bringt, finden wir wieder in einer isländischen Saga. Lin Mann,
als Dichter und Lrieger von allen verehrt, wird alt, und zwar so
alt, daß er zum Spott der Frauen wird, wenn er, erblindet und er-
taubt, sich am Herdfeuer wärmt. Nichts vermag ihn so zu erfreuen,
wie das Anrichten von Verwirrung und Unruhe. Am liebsten würde
er seine Schätze in die Volksversammlung mitnehmen und sie dort
über die Männer ausstreuen, welches Gedränge, welche Ver-
wirrung würde das geben! Das Lnde wäre ganz gewiß, daß
die ganze hochansehnliche Versammlung, dem heiligen Thingfrieden
zum Trotz, sich in eine allgemeine Rauferei auflöste. Lines Morgens
sehen die Männer, wie er mit zwei Sklaven wegfährt; die Listen
mit seinem Silber hat er mitgenommen. Nach einiger Zeit sieht man
ihn wieder heranhumpeln; das Pferd führt er am Zügel... doch
von den Listen, von den Sklaven hat man nie wieder etwas gesehen:
hatte er sie in einem tiefen Sumpf versenkt?
Zweifellos hatte der Germane Verständnis für den wert des Le-
bens; auch brachte er ihm Achtung entgegen. Der Verfall, die lang-
same Vernichtung, die das hohe Alter mit sich brachte, erweckte bei ihm
Furcht und Abscheu. Mit schnellem Entschluß gab er dem Tod, was
dieser sich schon zur Hälfte angeeignet hatte. Erfahrungen über die
Schäden, die der fortschreitende Abbau der Greisenkräfte nach sich
zieht, Befürchtungen, die in religiösen Anschauungen ihre Grundlage
hatten, tragen zur Erklärung von Unbarmherzigkeiten bei, wie sic in
diesen Erzählungen zutage treten.
 
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