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Raphaels heilige Familien

der Darstellung der Heiligen Familie bezieht , erweist sie sich in zwei wesentlichen
Punkten schon als Werk einer neuen Epoche und visuellen Kultur: Erstens in der
schon angedeuteten prominenten thematischen Deutung von Joseph, der in seinem
erzählerischen Zusammenhang mit dem Christusknaben zum handelnden Protago-
nisten der Szene avanciert, zweitens in derneuartigen kompositorischen Durchdrin-
gung des Rundformats aus einer Zentrum und Peripherie miteinander verbindenden
Figurenkomposition.

Überraschenderweise ist bisher der zentrale Vorgang des Bildes und dessen
Bedeutung nicht geklärt: Joseph reiche dem Christusknaben Blumen in seiner
Linken, heißt es bis in die jüngste Literatur30, ohne daß der thematische Sinn dieser
Handlung verständlich ist. Auch wenn die Pflanzen durch die Farbverluste selbst
am Original nur noch schwer zu identifizieren sind, so scheinen mir die weißen
Blüten weniger Blumen, als Erdbeerblüten !, die roten Farbspuren im Inneren der
Handhöhle dementsprechend Erdbeeren zu sein, so wie sie Baphael direkt unter-
halb zwischen Joseph und dem Christusknaben auch auf den Boden gemalt hat.
Hinzukommt eine vereinzelte violettblaue Veilchenblüte. Joseph ist auf diesem
Wege anschaulich als Nährvater interpretiert, und die Speise, die er dem Christus-
kind in Blüten gebettet reicht, ist nicht nur leiblicher Natur, sondern - auch darin
ist Joseph thematisch nobilitiert - entsprechend einem zu Raphaels Zeit schon
alten pflanzensymbolischen Topos die >Speise der Seeligem32: In der mittelalterli-
chen Tafelmalerei und in den Madonnenbildern des 15. und 16. Jahrhunderts war
es nichts Ungewöhnliches, Maria und Rind Erdbeeren im landschaftlichen Umfeld

den ausführlichen Restaurierungsbericht von .lohn Dick, The Cleaning ofthe Sulher-
land Raphaels, in: Raphael. The pursuit of perfection, 1994, S. 21-27, bes. S. 21ff.,
und den Überblick zum Forschungsstand in dem im gleichen Katalog abgedruckten
Essay von T. Cliffohd (Raphael: The pursuit of perfection, ebd., S. 9-19, bes. S. 13ff.)
und den Katalogbeitrag von A. Weston-Lewis (ebd., S. 36-44), vgl. auch National
Galleries of Scotland, 1989, S. 18 und Italian and spanish paintings, 1993,
S. 126-128.

-!l Hierzu M.Hauptmann, Der Tondo, 1936, S. 253. Vgl. z. B. die III. Familie in Fra
Barlolommeos Darstellung der Geburl (Tondo, Durchmesser 112 cm) in der Galleria
Borghese, Rom.

",0 So T. Clifford und A. Weston-Lewis in ihrem Resümee im Katalog Raphael. The pur-
suit of perfection, 1994, S. 13,40. R. Oberhuber (Raffaello, 1982, S. 46) spricht mit
Blick auf die Blumen allgemein von einem »Symbol für die Annahme der irdischen
Mission« durch den Christusknaben.

'>' Einen entscheidenden Hinweis zur botanischen Identifizierung verdanke ich einem der
drei Gutachter der Deutschen Forschungsgemeinschaft.

,2 Weiterführend zur ikonographischen Bedeutung der Erdbeere: L. Behling, Die Pflanze
in der mittelalterlichen Tafelmalerei, 1967, S. 19, 120; U. Braun, Erdbeere, in: Lexi-
kon der christlichen Ikonographie, Bd. I, 1990, Sp. 656f.

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