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VI. DIE HEILIGEN FAMILIEN UND RAPHAELS WEG ZU
EINER PARADIGMATISCHEN FARBORDNUNG

Die Heiligen Familien bilden in Raphaels CEuvre eine kleine Werkgruppe, die für
seine künstlerische und koloristische Entwicklung und für die Entstehung seiner
Bildmetaphorik indessen von großer Bedeutung war. Im Bereich des christlichen
Andachtsbildes eröffnete gerade diese Gattung einen flexibel variierbaren, von
Bildkonventionen nur wenig eingeengten bildmetaphorischen und erzählerischen
Spielraum: Heilige Familien können sich bis auf das anspruchsvolle, repräsentative
Format eines Altarbildes ausdehnen wie in der ///. Familie Canigiani (Abb. 56),
ohne in gleichem Maße von den Reglementierungen, denen Altarbilder als Auftrags-
arbeiten für den öffentlichen Kirchenraum vielfach unterlagen', betroffen zu sein.
Sie können in Gestalt miniaturgleicher Tafeln - wie in der III. Familie mit Lamm
(Abb. 54) - sowohl der privaten Andacht, als auch dem kritischen Auge eines
Sammlers dienen, oder den lokalen Vorlieben für ein anderes Format, wie den
Tondo in der///. Familie unter der Palme (Abb. 55), angepaßt werden.

Die theologischen Vorgaben zu diesem Thema sind vergleichsweise gering: In der
Bibel ist die Heilige Familie nur mit knappen Bemerkungen in Zusammenhang mit
der Flucht nach Ägypten (Mt2,15-25), der Darstellung im Tempel (Lk 2,22-24) und
in der Erzählung vom zwölfjährigen Jesus im Tempel erwähnt (Lk 2, 41-52)2.
Raphael konnte schon den Ort der Begegnung seiner Heiligen Familien mehr oder
weniger frei gestalten und metaphorisch deuten, wie z. B. den Innenraum in der
Hl. Familie mit bartlosem Joseph 3 oder wie die aulwendigen Landschaftshinter-
gründe in den übrigen Werken dieser Gattung mit ihrer oftmals komplexen Natur-
metaphorik. Auch die in den Heiligen Familien zentrale künstlerische Aufgabe,
einen formal wie thematisch sinnvollen Zusammenhang zwischen den Figuren zu
stiften, war Gegenstand der künstlerischen invenlio, und damit einer vom Künstler
selbst zu leistenden bildpoetischen Deutung, die Raphael in jeder seiner Heiligen
Familien aus anderen anschaulichen Zusammenhängen heraus entfaltet hat. Von

2

Siehe hierzu Kap. III. I., S. I 17.

Siehe daneben die apokryphen Kindheitsevangelien (II. Sachs, Heilige Familie, in:

Lexikon der christlichen Ikonographie, Bd. 2, 1990, Spalte 4IT.}.

Tempera und Öl auf I lolz, übertragen auf Leinwand, 72,5 x 57 cm, Ermitage, St. Peters

bürg, Inv.-Nr. 91.

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