Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Raphael als >poeta mutolo«

Neben äußeren Schwierigkeiten, wie z. T. entlegenen Aufbewahrungsorten, schei-
nen vor allem auch gattungsbezogene Vorbehalte der Grund dafür gewesen sein,
daß die Predellenkompositionen im Zusammenhang einer systematischen Untersu-
chung der Entwicklung der historia bei Raphael bisher vernachlässigt worden sind,
denn Predellenbilder besitzen eine doppeldeutige ästhetische Wertigkeit: Auf der
einen Seite sind Predellen Mein, und zwar nicht nur absolut hinsichtlich der
Dimension ihres Formates - hierin übertreffen sie immerhin manches der minia-
turgleichen ldeinen Gemälde, wie z. B. den Traum eines Ritters (Abb. 1), die Ma-
donna Coneslabile (Abb. 14) oder die Heilige Familie mit Lamm (Abb. 54) -,
sondern auch relativ zu dem stets viel größeren Format der Haupttafeln, die sie als
bildliche Marginalien begleiteten. Ihr gattungstypologisch vorgegebener Ort an der
Peripherie des Altarbildes ist per definitionem ein Ort bildlicher Subordination.
Auch wenn sie heute scheinbar als isolierte Einzelbilder in Museen ausgestellt
werden, bleibt ein Teil ihrer bildlichen Autonomie potentiell in den Zusammenhang
der Altartafel und der übrigen Predellen eingebunden. In der Regel erreicht die
malerische Ausführung der Predellen nicht die motivische Detaillierung und die
malerische Feinheit der formatmäßig vergleichbaren Miniaturbilder, denn für
deren nahsichtigen Betrachtungsmodus sind sie nicht gemacht. Obendrein bilden
die Predellen eine Gattung, die Raphael schon wenig später offenbar aufgegeben
hat: Es gibt keine Hinweise darauf, daß Raphael nach seinem Wechsel von Florenz
nach Rom jemals wieder eine Predella zu einem seiner Altarbilder konzipiert hat.
Auf der anderen Seite besitzen Raphaels Predellen durch ihre nicht selten kunst-
volle poetische invenlio, durch ihre formatbezogen auskomponierte Bildlichkeit,
ihren eigenen Figurenmaßstab und ihren eigenen Erzählmodus eine ästhetische
Eigenwertigkeit, ja Qualitäten autonomer Tafelbilder und einen ungewöhnlich
hohen künstlerischen Anspruch. Schon im 16. Jahrhundert wurden sie als selbstän-
dige Rompositionen studiert, etwa wenn Vasari die Predellen der Pala Colonna
(Abb. 50-52) beschreibt und hervorhebt, daß diese »von allen Malern sehr gelobt«
würden5. Im Verständnis der Zeitgenossen bildete die historia schon seit Alberti die
mit Abstand anspruchsvollste Aufgabe des Malers . Seit dem Tre-und Quattrocento
war die Gattung der Predella eines der Reservate der historia im Rontext der

be seen to slill greater eff'ect in an almost contemporary religious vvork, the predella of
the Madonna of the Nuns of Sant' Antonio« (Abb. 50-52; Raphael, 1970, S. 134); vgl. auch
J.-P. CuziN, Raphael, 1983, S. 33IT.
5 Vasari, Vite, Bd. IV, S. 324.

Alberti, Delta pittura, 1970, S. 157 (passim): »la istoria k summa opera del pictore«.
Vgl. auch Leonarho, Trattato clella pittura, 1989, § 35.

6

408
 
Annotationen