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III. Aequalitas. Das intermediäre Altarbild im Dialog mit dem gläubigen Betrachter

Die lokale und zeitliche Koinzidenz von Kreuzabnahmegruppen und tavole ist umso bemer-
kenswerter, als die Gruppen der depositio crucis in der Toskana durchweg plastisch sind und sie
durch ihre Lebensgröße, das Material, die Farbe und die räumliche Ausdehnung die »Verähn-
lichung«4 im Sinne einer psychischen Bereitschaft zur Nachfolge der gläubigen Betrachter zum
Ziel hatten. Die Vermutung, es habe hier eine vorgängige visuelle Tradition gegeben, derer
sich die intermediären Altarbilder bedienen, soll als Arbeitshypothese dienen. In diesem
Zusammenhang sei auf die enge Verbindung von Passionsspiel und Passionsbild hingewiesen ö
Bildende Kunst - besonders plastische Gruppen - und religiöse Spiele zeitigten zahlreiche
wechselseitige Wirkungen, verfolgten beide doch das Ziel, die Aktualisierung der Heilsge-
schichte für den Gläubigen zu befördern.4 5 6 * Gabriele Landgraf betont in ihrer Dissertation über
die sacri monti im Piemont und in der Lombardei, daß die skulpturalen Identifikationsfiguren
eine stärkere Einbeziehung des Gläubigen in die Passion Christi bewirkten.? Dies ist im Hin-
blick auf den von ihr in diesem Zusammenhang untersuchten Einfluß der Entstehung des Thea-
ters sicherlich richtig, wenn die Autorin auch den Beweis einer derartigen historischen Rezep-
tion nicht liefern kann.
Bei der liturgischen Verwendung plastischer Bildwerke war es das zentrale Anliegen, die Prä-
senz des Heiligen, dessen plastischer Corpus durch das liturgische Geschehen mit dem gedach-
ten Vorbild gleichgesetzt wurde, zu evozieren.8 Diese Suggestion der »material similitudes«?
wurde im Fall des toten Christus am Kreuz durch das Material unterstützt: Bereits aufgrund
seiner Materialität vermag der Protagonist des liturgischen Dramas in seinem ontologischen
Status widergespiegelt zu werden - vermitteln doch das Holz sowie die herabhängenden, meist
beweglichen Arme des Kruzifixus glaubwürdig die Suggestion eines toten Körpers. Zum weiter-
gehenden Verständnis der Wirkungsabsicht von plastischen Gruppen und tavole ist ihre Funk-
tionsgebundenheit an einen liturgischen oder religiösen Kontext zu beachten. Bei dieser bild-
lichen Art der Evokation von Präsenz wird der neuralgische Punkt berührt, der vor allem
immer dem Medium Skulptur zum Vorwurf gemacht wurde: die Gefahr, daß Bild und Prototyp
in der Rezeption der Gläubigen nicht mehr unterschieden werden können.
1.1 Die Gefahr der Verwechslung von Ur- und Abbild
Augustinus’ Warnung in De doctrina christiana, res und signum nicht zu verwechseln, war für
das theologische Denken und fromme Handeln des Mittelalters verbindlich. Lando di Pietro
verdanken wir einige Bemerkungen über die Wirkung von Skulptur im Sakralraum des Tre-

4 Pochat 1990, S. 51.
5 Bertling 1992, S. 59 und passim.
6 Dazu ausführlich Pochat 1990, der die Abhängigkeit
und gegenseitige Bedingtheit von bildender Kunst
und Theater im Italien des Mittelalters und der
frühen Neuzeit nachzeichnet. Aus Pochats Unter-
suchung geht hervor, daß die Toskana und Umbrien
bei weitem am stärksten an der Hervorbringung von
sacre rappresentazioni beteiligt waren, was mit der
lokalen Verteilung der intermediären Altarbilder
koinzidiert. Allgemein zur tatsächlichen Einbin-
dung von Skulpturen in das liturgische Drama des

Mittelalters vgl. Forsyth 1972, S. 49-60 sowie
Krause 1987. Zu systematischen Überlegungen zur
mittelalterlichen Liturgie vgl. Flanigan 1996, der
betont, daß bei rituellen Spielen wie der visitatio
sepulchri kein Publikum im allgemeinen Sinne teil-
nahm, da die Kongregation insgesamt in das Ritual
eingebunden war. Flanigan 1996, S. 10, weist auf die
Kraft der Aktualisierung hin, die im Rahmen des
liturgischen Spiels von Worten und Gesten hervor-
gerufen wurde.
7 Landgraf 2000, S. 141 ff.
8 Taubert 1978, S. 11.
 
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