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Zeitschrift für Geschichte der Architektur — 4.1910/​11

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Mettler, Adolf: Die zweite Kirche in Cluni und die Kirchen in Hirsau nach den "Gewohnheiten" des XI. Jahrhundert, [2]
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https://doi.org/10.11588/diglit.22224#0028
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Mettler,

um so weniger, als die Cluniazenser eigentlich besonderen Anlaß gehabt hätten, am
Doppelchor festzuhalten; denn das Doppelpatronat, die Zueignung des Münsters an
die beiden Apostelfürsten, deren Kult wir in St. Gallen auf die östliche und die west-
liche Apsis verteilt finden, ist für Cluni und seine Ableger charakteristisch. Hier
müssen Gesichtspunkte grundsätzlicher Art maßgebend gewesen sein. Die im Wesen
jeder mönchischen Reform begründete Forderung der Rückkehr zur ersten Strenge und
Einfachheit gewinnt, wie am deutlichsten der Zisterzienserorden zeigt, Einfluß auch auf
die Bauweise. Verglichen mit St. Gallen stellt denn auch der cluniazensische Kirchen-
typus eine erhebliche Reduktion dar; er verzichtet auf den Westchor, auf die Krypta,
auf das östliche Paradies, bisweilen auch auf die Ostapsis.1

Ein weiteres Motiv für die Umgestaltung der Westseite lag auf liturgischem Ge-
biet. Zwar die Beseitigung des Westchors läßt sich aus den «Gewohnheiten» liturgisch
nicht begründen. Dagegen ist das Interesse an der Vorhalle und dem westlichen Kirchen-
eingang ein anderes geworden. Das Westparadies in St. Gallen scheint vorwiegend für
die Laien bestimmt gewesen zu sein. Die darauf zuführende Straße trägt die Beischrift:
Omnibus ad sanctum turbis pätet haec via templum. In dem kleinen Vorplatz un-
mittelbar vor dem Paradies steht: Adveniens aditum populus hic cunctus habebit. Die
ganze Anlage und Umgebung sieht nicht nach regelmäßiger Benützung des westlichen
Paradieses durch die Mönche aus, wie auch die innere Einrichtung der Kirche, die Ver-
teilung der Türen und die vielen Abschrankungen nicht auf eine stärkere Ausbildung
des Prozessionswesens hindeutet. In Cluni dagegen lag in diesem der Schwerpunkt der
Bestimmung der Vorhalle. Dabei wurde besonderer Nachdruck gelegt auf den Einzug
aus der Vorhalle in die Kirche. Dieser symbolisch bedeutsame Akt wurde auch äußer-
lich hervorgehoben durch das in den «Gewohnheiten» jedesmal vorgeschriebene Zu-
sammenläuten mit allen Glocken2, während auf dem übrigen Weg die Prozession nicht
mit Geläute oder nur mit dem zweier Glocken:! begleitet wurde. Es ist klar, daß das
Bedürfnis der bequemen Ausführung und der eindrucksvollen Gestaltung des Einzugs
ein Portal in der Mitte der Stirnseite forderte. Die beabsichtigte starke Wirkung wurde
nur erzielt, wenn der Zug aus dem offenen Vorhof unmittelbar das Mittelschiff betrat
und das durch die Ostfenster einströmende Licht den Blick sofort auf den heiligsten
Teil des Gotteshauses lenkte. Zu diesem Zweck mußte der Westchor fallen.4 Dann ergab
sich aber die Rückkehr zur ursprünglichen rechteckigen Form des Vorhofs von selbst und
eine weitere natürliche Folge war die Heranziehung der in St. Gallen isolierten Türme
an seine Front. Klimatische Einflüsse werden dann vollends die letzten Schritte, die
vollständige Überdachung des Hofs und seinen Ausbau zur Vorkirche, bewirkt haben.

1 Dieser Beschränkung steht nun allerdings in dem Anbau der Seitenkapellen an den Ostarm der
Kirche («Nebenchöre») eine Erweiterung gegenüber. Aber eine Verleugnung des Grundsatzes der Einfachheit
ist das nicht. Denn vermöge ihrer Bestimmung. Gelegenheit zu besonderer Kasteiung zu geben, entstammen
diese Kapellen demselben Geist der Askese, der zu den erwähnten Reduktionen geführt hat. Wenn ferner
oben nicht Sirenge, sondern Prachtliebe als Hauptmerkmal cluniazensischer Art bezeichnet wurde, so ist zu
bedenken, dal.i diese Eigenschaft erst auf einer späteren Stufe der Entwickelung des Ordens sich heraus-
gebildet hat, während die Grundzüge des Münsterschemas noch in der Anfangsperiode festgelegt wurden.

2 Ebenso beim Zug aus der Kirche direkt in die Vorhalle (CF I, 07, S. (17); nur daß dieser Fall seltener
eintrat, weil die Prozession gewöhnlich die Kirche durch eine Türe im Querschiff verließ und die Vorhalle
vom Kreuzgang aus erreichte. — 3 CF I, 53, S. 44 f.

4 Einen Ersatz bieten die Abseiten des Presbyteriums und die nahe Marienkapelle.
 
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