Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Zeitschrift für Geschichte der Architektur — 4.1910/​11

DOI Artikel:
[Literatur]
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.22224#0032
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
20

subjektiven Beimischung, wie Alois
Riegl sagt, «durch die Wiedergabe der Aufsen-
dinge in ihrer klaren stofflichen Individualität»,
2. durch Annäherung an die abstrakten kristal-
linischen Formen.

Seite 27: Der Naturalismus als Stil ist zu
scheiden von dem Begriff des Imitativen. Natura-
lismus bedeutet nur das Glück des Organisch-
Lebendigen, nicht das des Lebenswahren.
Aber in der Nachrenaissance werden Lebens-
wahrheit und Kunst allmählich als untrennbare
Begriffe vermischt.

Seite 30: Das Ästhetische ist das Nicht-
individuelle, die Form — das heißt die Form der
«generalisierenden Stilisierung» (Lipps) — be-
deutet Negation des Individuellen. Vergl. die oben
nach Lipps angeführten zweierlei Möglichkeiten
der Stilisierung.

Aus dem IV. und V. Kapitel, die ausgewählte
historische Beispiele aus Architektur und Plastik
unter den Gesichtspunkten von «Abstraktion und
Einfühlung» darbieten, sei hervorgehoben:

Seite 77. 78: Die Architektur als Dar-
stellung des psychischen «Kunstwollens» (Biegl)
eines Volkes — im Gegensatze zu G. Sempers
materialistischer Erklärung: Der tektonische Ge-
danke, der Gebrauchszweck und das Material
sind nur Faktoren, mit denen man einen höheren
Gedanken ausdrückt. Innerhalb der logiseben
Entwicklung eines tektoniseben Gedankens spielt
sich stets auch eine entsprechende Skala psy-
chischer Zustände ab.

Seite 106: Über die Stellung der — an
sich organischen — Antike im — nordisch ab-
strakten — romanisshen Stil: Die Antike
ist im Romanischen nicht als eine in ihrem
organischen Wesen klar erfaßte Form, sondern
als ein äußeres Gerüst, als ein feststehender Typus

im Sinne der Hildebrandschen Reliefaut'f'as-
sung versteht: vergrl. S. 86.

beibehalten, mit dem das eigentliche Kunstwollen
sich notgedrungen auseinandersetzen muß.

Seite 111 bis 145: Die Formen des spät-
gotischen Gewandstils lassen sich nicht
einfach aus dem Materialcharakter des skulpierten
Holzes ableiten; sondern das Gewand bildet das
Substrat für lineare Phantasien eines zeitlich ganz
spezifischen, rein ornamentalen Kunstwollens: Das
Gewand erscheint als linearabstraktes Gebilde
neben der organischen Körperlichkeit der Ge-
stalten. Das Gewand mit der Phraseologie seiner
kunstvoll geleiteten Falten führte ein Sonderdasein
dem Körper gegenüber,' wurde zu einem Or-
ganismus für sich. «Am Ende suchen
Körper und Gewand gleich zwei getrennten
Orchestern sich gegenseitig zu übertönen, obwohl
sie in derselben Tonart spielten. In jener Ent-
wicklungsphase der Gotik, die wir das gotische
Barock nennen und deren Vertreter wir haupt-
sächlich in Süddeutschland finden, raffte sich die
Musik des Gewandes zu einer letzten volltönenden
Symphonie zusammen. Hier schwelgte sie noch
einmal in den wundervollsten Akkorden, welche
den bescheidenen und zurückhaltenderen Rhyth-
mus des Körpers laut übertönten. — Aber mit
dieser letzten Anstrengung brach sie zusammen
und der Körper drang immer klarer und selbst-
herrlicher durch. Das fortgeschrittene Erfassen
der Renaissance beseitigte dann schließlich jede
Doppelwirkung zwischen Körper und Gewand.» —

Es ist schade, daß Wilhelm Worringer
diese vielen brillanten Einzelgedanken nicht in
historisch richtiger und ästhetisch logischer Ent-
wicklung uns aufgeführt hat. Hätte er das wunder-
voll tiefe Problem der Stilisierung gründlicher,
bis zur letzten Konsequenz durchgedacht,
so wäre auch er sicherlich nicht bei der ober-
flächlichen, deshalb unhaltbaren Antithese von
«Abstraktion und Einfühlung» stehen geblieben.

Straßburg i. Eis. Fritz Hoeber.
 
Annotationen