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Der Tempel wurde in den großen Architekturepochen neben seiner Bedeutung als
Heiligtum zum Observatorium, zum Kalendarium, ja zum Depositorium der Welt-
ordnung, zur bewußten bildlichen Offenbarung des Weltenbaus. — Die Architektur-
briefe des Franzosen Viel de Saint-Maux1 erblicken in dem antiken Tempelbau die
Vereinigung alles dessen, was die Menschheit von Welt und Gottheit wußte, mit der
offenkundigen Absicht, ihre tiefsten Gedanken durch seine Gestaltung der Nachwelt zu
überliefern, — einen steinernen Hymnus dargebracht dem Genie Agricole, der
Erde' und der fruchtspendenden Sonne. W. R. Lethaby weist in den Gebäuden
der jüngeren Welt deutlich den kosmischen Symbolismus nach. Alle Architektur,
Tempel, Grab, Palast, ist einst heilig gewesen und untrennbar verbunden mit dem
Gedanken des Volkes über Gottheit und Universum. — Die Wiedergabe des vorgestellten
Welttempels war natürlich nicht Boginn, sondern Höhepunkt der Baukunst, oder um
deutlicher zu sein: Die damalige Baukunst verwirklichte die denkbar höchste Absicht,
jedoch mit unvollkommenen Mitteln. Zeit und Umstände gaben vollkommenere Mittel
dem Architekten nicht an die Hand, wenn die Darstellung auch zur Zeit ihrer An-
wendung nicht in dem Maße unverständlich war, wie sie es im Laufe der Zeit ge-
worden ist. — Die religiösen Zeremonien während der großen Bauzeiten in Chaldäa,
Ägypten, Indien bedienten sich des Naturdienstes, welcher Himmel, Sonne, Meer nicht
in solcher Weise verschloß, wie es die Griechen taten, welche sie vergöttlichten, sondern
offen und wohlverstanden als Teile des Kultus.
Einige Grundbegriffe sind stets in gewissen Epochen Allgemeingut der Menschheit
gewesen, und eine gemeinsame Ideenwelt ist in der Architekturwelt mancher Länder
und Religionen zu finden, wenn auch nicht überall gleichgeformt und nicht in gleicher
Vollständigkeit — aber jedenfalls wurde der Tempel ähnlich der Welt gebaut, wie sie
sich die Zeitgenossen des Architekten vorstellten, und alles Wissen hineingeheimnißt,
über welches sie verfügten. Noch die großen französischen Kathedralen des 13. Jahr-
hunderts sind wahre steinerne Enzyklopädien von Natur, Wissenschaft, Moral und
Geschichte. Der Erbauer wollte aber nicht nur seine Kenntnisse erweisen, sondern er
beabsichtigte zu den Wissenden sinnbildlich zu sprechen und die Menge zu belehren.
Da sowohl der Auftraggeber wie der Baumeister geistlichen Standes zu sein pflegte, so
übte er seinen Lehrberuf auch durch die Baukunst aus und gab seiner Wissenschaft
im Gotteshause die denkbar größte Verbreitung und Autorität. —
Zwei geometrische Bilder erschienen den alten Kulturvölkern als die Grundlagen
des Weltsystems: das Viereck oder der Kubus, welcher die Erde darstellt, und die
Halbkugel, welche den Himmel symbolisiert. Das Geviert war eine heilige Versicherung
für Dauer und Standhaftigkeit: die Roma quadrata, der kubische Stein im Tempel
von Jerusalem, dem man in Ägypten, Phönizien, in der Kaaba zu Mekka wiederbegegnet,
sind naheliegende Beispiele. An dem buddhistischen Hügelmonument, der chinesischen
Tope, ist die Vermählung beider Formen zugleich und die Entwicklung der Darstellung
des Weltbildes zu verfolgen, welches schließlich in der Pagode seinen Abschluß ge-
funden hat. Die Stupas, nach Grünwedel2 ursprünglich Grabmäler der Könige,
waren an Orten errichtet, wo ein bedeutendes Ereignis im Leben eines Buddhas statt-
1 Lettres sur l'Archilecture des Anciens et celle des Modernes, dans lesquelles se trouve developpe
le genie symbolique qui preside aux monumcns de l'Antiquite. •
2 Buddhistische Kunst in Indien von Albert Grünwedel, Berlin 1900.
Mnx Schlesinger.
Der Tempel wurde in den großen Architekturepochen neben seiner Bedeutung als
Heiligtum zum Observatorium, zum Kalendarium, ja zum Depositorium der Welt-
ordnung, zur bewußten bildlichen Offenbarung des Weltenbaus. — Die Architektur-
briefe des Franzosen Viel de Saint-Maux1 erblicken in dem antiken Tempelbau die
Vereinigung alles dessen, was die Menschheit von Welt und Gottheit wußte, mit der
offenkundigen Absicht, ihre tiefsten Gedanken durch seine Gestaltung der Nachwelt zu
überliefern, — einen steinernen Hymnus dargebracht dem Genie Agricole, der
Erde' und der fruchtspendenden Sonne. W. R. Lethaby weist in den Gebäuden
der jüngeren Welt deutlich den kosmischen Symbolismus nach. Alle Architektur,
Tempel, Grab, Palast, ist einst heilig gewesen und untrennbar verbunden mit dem
Gedanken des Volkes über Gottheit und Universum. — Die Wiedergabe des vorgestellten
Welttempels war natürlich nicht Boginn, sondern Höhepunkt der Baukunst, oder um
deutlicher zu sein: Die damalige Baukunst verwirklichte die denkbar höchste Absicht,
jedoch mit unvollkommenen Mitteln. Zeit und Umstände gaben vollkommenere Mittel
dem Architekten nicht an die Hand, wenn die Darstellung auch zur Zeit ihrer An-
wendung nicht in dem Maße unverständlich war, wie sie es im Laufe der Zeit ge-
worden ist. — Die religiösen Zeremonien während der großen Bauzeiten in Chaldäa,
Ägypten, Indien bedienten sich des Naturdienstes, welcher Himmel, Sonne, Meer nicht
in solcher Weise verschloß, wie es die Griechen taten, welche sie vergöttlichten, sondern
offen und wohlverstanden als Teile des Kultus.
Einige Grundbegriffe sind stets in gewissen Epochen Allgemeingut der Menschheit
gewesen, und eine gemeinsame Ideenwelt ist in der Architekturwelt mancher Länder
und Religionen zu finden, wenn auch nicht überall gleichgeformt und nicht in gleicher
Vollständigkeit — aber jedenfalls wurde der Tempel ähnlich der Welt gebaut, wie sie
sich die Zeitgenossen des Architekten vorstellten, und alles Wissen hineingeheimnißt,
über welches sie verfügten. Noch die großen französischen Kathedralen des 13. Jahr-
hunderts sind wahre steinerne Enzyklopädien von Natur, Wissenschaft, Moral und
Geschichte. Der Erbauer wollte aber nicht nur seine Kenntnisse erweisen, sondern er
beabsichtigte zu den Wissenden sinnbildlich zu sprechen und die Menge zu belehren.
Da sowohl der Auftraggeber wie der Baumeister geistlichen Standes zu sein pflegte, so
übte er seinen Lehrberuf auch durch die Baukunst aus und gab seiner Wissenschaft
im Gotteshause die denkbar größte Verbreitung und Autorität. —
Zwei geometrische Bilder erschienen den alten Kulturvölkern als die Grundlagen
des Weltsystems: das Viereck oder der Kubus, welcher die Erde darstellt, und die
Halbkugel, welche den Himmel symbolisiert. Das Geviert war eine heilige Versicherung
für Dauer und Standhaftigkeit: die Roma quadrata, der kubische Stein im Tempel
von Jerusalem, dem man in Ägypten, Phönizien, in der Kaaba zu Mekka wiederbegegnet,
sind naheliegende Beispiele. An dem buddhistischen Hügelmonument, der chinesischen
Tope, ist die Vermählung beider Formen zugleich und die Entwicklung der Darstellung
des Weltbildes zu verfolgen, welches schließlich in der Pagode seinen Abschluß ge-
funden hat. Die Stupas, nach Grünwedel2 ursprünglich Grabmäler der Könige,
waren an Orten errichtet, wo ein bedeutendes Ereignis im Leben eines Buddhas statt-
1 Lettres sur l'Archilecture des Anciens et celle des Modernes, dans lesquelles se trouve developpe
le genie symbolique qui preside aux monumcns de l'Antiquite. •
2 Buddhistische Kunst in Indien von Albert Grünwedel, Berlin 1900.
Mnx Schlesinger.