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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 60.1927

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Valeton, Anna: Das Schöpferische im Kind
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https://doi.org/10.11588/diglit.9255#0198

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DAS SCHÖPFERISCHE IM KIND

In jedem Kind steckt ein kleines Genie, ein
kleiner Schöpfer". Kein Wort ist wahrer und
kein Wort wird mehr mißbraucht, denn das
schöpferische Tun des normalen Durchschnitts-
Kindes richtet sich einzig und allein auf die Ent-
wicklung seines Selbst. Oder besser auf die
Entfaltung seines Selbst. So nennt es die Grä-
fin Montessori, deren Unterrichtsmethode weit
mehr ist, als ein neues Kindergartensystem.
Alles Spielzeug, sie sagt Entfaltungsmaterial,
das sie den Kindern gibt, gibt ihnen die Mög-
lichkeit, sich selber zu schaffen durch eine in-
tensive und ihren Bedürfnissen genau angepaßte
Entwicklung ihrer Sinne. Und zwar auf eine
ganz merkwürdige Weise. Nicht durch Anreg-
ung der Sinne durch besonders anziehende und
schöne Gegenstände etwa — Kindersinne sind
von innen heraus angeregt genug — sondern
durch etwas, was man wohl — — — Muskel-
übungen nennen kann. Nicht im Sinne von
Turnen und Sport natürlich. Sondern Übungen
der kleinen Muskeln, die man zu künstlerischer
Tätigkeit braucht, also der Finger. Wenn man
es sich richtig überlegt, ist es natürlich ein Un-
sinn, von sechsjährigen Kindern zu verlangen,
daß sie Bleistift und Feder führen sollen, um
für ein Kind unbegreiflich kleine und kniffliche
Buchstaben zu malen, mit ihren bis dahin ganz
ungeübten Fingerchen. Montessori gibt ihnen
zunächst einmal Buntstifte in die Hand und etwa
handtellergroße geometrische Figuren. Die wer-
den auf Papier gelegt, der Rand nachgezogen,
und nun die Fläche mit feinen Strichen bunt aus-
gefüllt. Die Kinder haben eine nie erlöschende
Freude an den bunten Gebilden, die da ent-
stehen. Sie lernen bald mehrere Figuren zu-
sammensetzen und in verschiedenen Farben
ausfüllen. Dies ist nur ein Beispiel für die Art
ihres Unterrichts. Die Fingerchen lernen dabei
den Stift führen und mit Willen und Bewußt-
sein bestimmte Striche machen. So kann die
Hand eigentlich schon schreiben und macht
keine Schwierigkeiten mehr, wenn der Geist
schreiben will, und das Schreiben kommt ganz
von selbst, oft sogar ganz plötzlich.

Bei diesen farbigen Zeichnungen, die die
Kinder machen, diesen Mustern, zeigt sich nun
in auffallender Weise, wie diese Art Unterricht
gut ist für alle Art Kinder. Das normale Durch-
schnittskind entwickelt Farben- und Formen-

sinn dabei, wie es ihn braucht, um sich selber
voll zu entwickeln, sich selber zu schaffen; und
das besonders begabte Kind wird in keiner
Weise behindert und beengt, sondern es be-
kommt, ohne übertrieben angestrengt zu wer-
den, die handwerklichen Fähigkeiten, die es
braucht, um schöpferische Arbeit leisten zu
können. Begabte Kinder heben sich sehr rasch
unter den andern heraus und überraschen durch
einen ungeahnten Reichtum an Farben- und
Formenzusammenstellungen.

Ebenso ist es beim Tonkneten. Jedes Kind
freut sich unendlich, wenn man ihm Plastilin
oder Wachs oder irgend eine andere knetbare
Masse in die Hand gibt. Es wird tagelang
daran herumkneten. Und es wird unzählige
Schalen und Becher und Nester mit Vogeleiern,
vielleicht auch eine Schlange oder einen Ball
hervorbringen, aber nichts anderes. Natürlich
ist das eine schöpferische Tätigkeit. Es macht
ja mit seinen Fingerchen eine Form aus Nichts.
Aber für ein begabtes Kind ist eine Knetmasse
etwas, womit man einfach alles machen kann.
Alles, was man sieht, Menschen und Pferde und
Autos und Fahrräder und Dampfschiffe und
Eisenbahnen und alles, was man zu phantasie-
vollen Spielen braucht, Soldaten und Ritter und
Fabeltiere. Und es werden Dinge, die in Er-
staunen versetzen über ihren künstlerischen
Wert. Dinge, von denen man ergriffen wird,
trotz aller handwerklichen Primitivität.

Künstlerische Begabung ist etwas, was man
nicht erzwingen kann, etwas, was mit Charakter
und Erziehung eigentlich nicht viel zu tun hat.
Die beste Erziehung ist diejenige, die dem Kinde,
dem angehenden Künstler, sein Handwerk bei-
bringt, also ganz elementar ausgedrückt, die-
jenigen Muskeln übt und ausbildet, die es
braucht, um seine schöpferischen Fähigkeiten
anzuwenden. Und das ist auch das Beste für
alle andern Kinder. Denn ein kleiner Schöpfer
ist ja jedes Kind. Man darf nur nicht vergessen,
daß man von einem Kinde nie objektiv wert-
volle Kunstwerke verlangen darf, sondern nur
die Dinge, die es braucht, um seine eigene Per-
sönlichkeit voll zur Entfaltung zu bringen. Das
heißt, daß die Erziehung immer nur das Stück-
chen Leben und Welt an es heranbringen soll,
was es im Augenblick seines Lebens gerade
verarbeiten kann........ anna valeton.


 
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