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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 60.1927

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R., K. H.: Überwindung der Psychologie
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https://doi.org/10.11588/diglit.9255#0110

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EDGAR DEGAS

ART GALLERV, GLASGOW SOWIE SIHOLIN, BERLIN

»IN DER WANNE«

ÜBERWINDUNG DER PSYCHOLOGIE

Die gegenwärtige Kunst ist antipsychologisch.
Sie bemächtigt sich mit Eifer und Vorliebe
des Konkreten und Realen, der wirklichen Er-
scheinung der Dinge und begnügt sich, diese
zu gestalten, ohne sich in das Gestrüpp hinter-
sinniger Spekulationen zu verlieren. Man soll
nicht glauben, daß dieses Begnügen eine Ohn-
machtserklärung, daß es Resignation bedeute,
als habe sich der Kunst die Erkenntnis eigener
Unzulänglichkeit bemächtigt; es bedeutet viel-
mehr die Einsicht, daß ein Gestaltungsprinzip,
eben das psychologische, sich selbst ad ab-
surdum geführt hat, daß die psychologische und
psychologisierende Kunst in einer Zone äußer-
ster Lebensferne und -fremdheit angekommen
war, der die Analysis alles, das bildhaft geformte
Ergebnis nichts mehr bedeutete. Nicht die
bildende Kunst allein, die Literatur und die
Musik haben die gleiche Entwicklung durchge-
macht. Es wird Aufgabe einer zukünftigen Kunst-
geschichtsschreibung sein, die Symptome einer
Überwindung der Psychologie, wie sie in den
letzten Jahren erkennbar wurden, zu benennen
und zu deuten. Hier kann nur auf den Vorgang
selbst hingewiesen werden. Am ehesten ist
vielleicht in der Musik der krisenhafte Zustand
eines übertriebenen und überschärften Psycho-

logismus erkannt und überwunden worden;
Richard Strauß, der mit der „Elektra" das
äußerst Mögliche an musikalischer Psychologie
gewagt — und gewonnen hatte, erkannte mit
der untrüglichen Einsicht des Genies, daß hier
kein Weg weiterführe, daß er selbst nur einmal
bis zu dieser weit vorgeschobenen Etappe vor-
dringen konnte; sein nächstes Werk war der
„Rosenkavalier". Die Literatur ist dagegen —
immer unter dem Gesichtspunkt der psycholo-
gischen Bindung gesehen — am weitesten zu-
rück. Die äußersten Verfeinerungen des psy-
chologischen Tatbestands, wie sie in den letzten
Büchern Jacob Wassermanns, in Thomas Manns
„Zauberberg" vorgenommen werden, führen
schon stark hinauf und hinaus in die dünne
Luft sublimierter, abstrakter Geistigkeit. Und
das gewaltige Werk des Franzosen Marcel
Proust, des größten Dichters, den das Europa
unserer Tage besaß, ist der literarische Parallel-
fall zur „Elektra": die letzte souveräne Be-
hauptung der künstlerischen Psychologie, von
unübersehbarer Größe, bis in die fernsten Wei-
ten und Tiefen vordringend, eine einmalige End-
leistung, hier noch einmal durch die starke Kraft
eines Genies gebändigt, aber mit allen Zeichen
des Endes, des Weiter-nicht-mehr-möglichen.
 
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