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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 60.1927

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Niebelschütz, Ernst von: Ist religiöse Kunst heute noch möglich?
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https://doi.org/10.11588/diglit.9255#0319

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IST RELIGIÖSE KUNST HEUTE NOCH MÖGLICH?

VON ERNST V. NIEBELSCHÜTZ

In den deutschen Kirchen der beiden großen
Konfessionen ist neuerdings eine lebhafte
Bewegung im Gange, deren Ziel die Gründung
vonVereinen zur Förderung christlicher
Kunst ist. Angesichts dieser Tatsache muß es
erlaubt sein, vor optimistischen Erwartungen zu
warnen und die Frage aufzuwerfen, ob die
heutige Menschheit noch fähig ist, das Heilige
ähnlich überzeugend zu gestalten, wie das etwa
im Mittelalter geschehen ist.

Der moderne Hochmut, der auf den Fort-
schritt schwört, dürfte die Frage ohne Umstände
bejahen. Unwillkürlich sträubt sich ja der Spät-
geborene gegen die Unterstellung, etwas nicht
ebenso gut oder gar besser zu können, als der
Vorläufer. Die verhängnisvolle Auffassung von
der Kunst als eines im wesentlichen techni-
schen Vermögens bestärkt viele, die es mit
einer Wiedergeburt der religiösen Kunst ernst
meinen, in dem Glauben, daß wir nur die Hände
zu rühren brauchten, um ein Brachfeld in Acker-
land zu verwandeln. Die an sich löblichen An-
strengungen der Kirchen scheinen mit von die-
sem Gedanken — „wo ein Wille, da ist auch
ein Weg" — getragen zu sein. Wie aber, wenn
der Boden, auf dem man zu ernten hofft, in-
folge der Zusammensetzung seiner geistigen
Krume gar nicht mehr imstande ist, den Samen
in Frucht umzubilden? Wenn also die Voraus-
setzungen, unter denen die mittelalterliche Kirche
den gewaltigen Einheitsbau ihrer sakralen Kunst
errichtete, als geistige Wirklichkeiten gar nicht
mehr vorhanden sind? Religiöse Kunst läßt
sich nicht auf dem Verordnungswege schaffen.
Wo immer sie blühte, war sie das Ergebnis
eines gemeinschaftlichen Verlangens nach ihr,
die reifste Frucht am Baume einer allgemeinen
Kultur. Wir können die gestellte Frage nicht
beantworten, ohne zuvor die Bedingungen unter-
sucht zu haben, unter denen religiöse Kunst
überhaupt möglich ist.

Je mehr die Kunst ein Wissen um die Dinge
wird, um so weiter entfernt sie sich von ihrer
Wurzel, demMythos. Nur als mythenbildende,
d. h. schöpferische Fähigkeit der Seele —
nicht nur des Auges und der Hand — vermag
sie, nach Jakob Burckhardts schönem Wort,
„ein höheres Leben darzustellen, das ohne sie
nicht vorhanden wäre". Auf dieser Stufe ihrer
Entfaltung stellt sie neben die „wirkliche" Welt
eine zweite, eine aus inneren Energien heraus

frei erzeugte Welt des geistigen Seins, die
gleichwohl mit dem Anspruch auftritt, für wahr
gehalten zu werden, ja für um so wahrer, je
weniger wirklich sie ist. Die ihr zufließenden
Aufgaben stellt der Mythos, die heilige Legende
und deren Verwalterin und Auslegerin, die
Kirche. Diese ist es, die zugleich mit den
Aufgaben auch die Mittel zu ihrer Lösung vor-
schreibt: bedeutungsreiche Zeichen, die den
Betrachter nicht zu Vergleichen mit der Wirk-
lichkeit auffordern, ihm vielmehr das Sinnbild
als real und unmittelbar gegenwärtig erscheinen
lassen. Voraussetzung dafür ist von der Aus-
drucksseite her eine Kirche, die ihre tiefsten
Wahrheiten nicht in Worten, sondern in Sym-
bolen ausspricht, von der Ein druck sseite her
eine entsprechende Empfänglichkeit für die
Grammatik einer solchen sinnlich-übersinnlichen
Hieroglyphensprache. Vor allem: das Verlangen
nach Verleiblichung der heiligen Geheimnisse
muß allgemein, das Bild muß selber zu einem
Stück des Kultus, zu einem geweihten, mit
übernatürlichen Kräften ausgestatteten Gegen-
stand geworden sein, wenn eine religiöse Kunst
von kultischer Bedeutsamkeit entstehen soll.
Erst die innige Verbindung mit dem Gottesdienst
hält die Kunst an, sich allgemeingültiger Formeln
zu bedienen, schützt sie vor naturalistischen
Ausschweifungen und macht sie widerstands-
fähig gegen die schlimmste der ihr drohenden
Gefahren, die moderne Originalitätspest, die
den Gedanken der Gemeinschaft durch die „per-
sönliche Auffassung" ersetzt und schließlich
aufhebt.

Und weiter: solange die Kunst sich „an alle"
wendet, Tradition und Übereinkunft stärker
sind als die persönlichen Momente, bringen die
Künstler ihr Werk im Schatten der Namen-
losigkeit hervor. Es ist nicht allein der naive
Glaube an die Tatsächlichkeit von Himmel und
Hölle, es ist nicht bloß das Gefühl des innigsten
Sich-eins-Wissens mit dem Heiligen, das uns
beim Anblick der Jüngsten Gerichte, der Legen-
den und Madonnen des Mittelalters so wunder-
bar ergreift. Das alles spricht mit und sehr
wesentlich. Entscheidend aber ist das Gewahr-
werden einer ganz echten, von keiner „origi-
nellen" Anschauung abgelenkten Verbundenheit
dieser Kunst mit dem Empfindungsleben der
Gesamtheit, ihre ungewollte und eben darum
so hinreißend wirkende Volkstümlichkeit.

XXX. August 1927. 4
 
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