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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 60.1927

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Sydow, Eckart von: Das Leben der Farben im Kunstwerk
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https://doi.org/10.11588/diglit.9255#0339

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ADOLF SCHLNNERER—MÜNCHEN

= H!OB UND SEINE FREUNDE«

DAS LEBEN DER FARBEN IM KUNSTWERK

VON E. V. SYDOW

Diese Worte betreffen einen Komplex von
Tatsachen und Vorstellungen, der zunächst
durchaus widerspruchsvoll anmutet. Denn das
„Leben" ist ein Prozeß immer erneuerter Reg-
samkeit, voll von Anspannung und Ausruhen,
von Anziehung und Abstoßung, Aufnahme und
Ausscheidung, Wille zum Wachstum und Nie-
derbruch im Tode. Demgegenüber scheint das
Kunstwerk genau entgegengesetzt definiert
werden zu müssen: als letzte Formulierung
einer Anspannung, als endgültige Formprägung,
festgelegt, nicht mehr zu ändern und insofern
allerdings sogar teilnehmend an einer gewissen
Todesstarrheit. — Aber dennoch spricht man
vom Leben der Farben und der Linien. Und
sobald man den Unterschied zwischen guter und
schlechter Malkunst aufklären will, fühlt man
sich dazu getrieben, das auszeichnende Merk-
mal der guten Malerei eben darin zu prokla-
mieren, daß ihre Farben ein eigenes, selbstge-
wisses Leben führen. —

Diese Thesen ziehen in der Tat den scharfen
Grenzstrich zwischen dem Bereich des Nicht-
Künstlers und dem Reich des Künstlers und
ebenso scharf den Schnitt zwischen dem Kunst-

Verständigen und dem Kunst-Fremden: wer aus
chemischer Materie „Leben" schafft, ist Künst-
ler, — wer in dem, was zunächst als Farbmaterie
erscheint, das Prinzip des Lebens erschaut,
gehört zu den Kunst-Verständigen. Beiden ist
gemeinsam die schöpferische Phantasie.
Ihr Werk ist es, aus dem die Welt des schönen
und des unschönen, des grandiosen und des
kleinlichen, des frommen und des dämonischen
Scheins erwächst. Lebendige Farbe ist
die Farbigkeit, welche vom Schöpfertum
durchdrungen ist.

Durchdrungen! also nicht bloß Basis (wie in
zahlreichen Werken des frühen Ed. Münch), auf
der eine immerhin höchst interessante Geistig-
keit mit mannigfaltigen Bezügen weiterbauen
kann, — nicht bloß Schmuckfreude mit groß-
artiger Gestikulation (wie überwiegend in den
Bildern Kirchners), — nicht bloß Darstellungs-
lust (wie in den allermeisten Fällen der Kunst-
betätigung). Im Gegensatz zu diesen drei Haupt-
gruppen eines irregehenden Triebes ist die
schöpferisch erlebte Farbe wohl fähig, Gegen-
ständliches abzubilden, der dekorativen Schau-
lust zu dienen und seelischen Gehalt anschau-

XXI. August 1927. 6
 
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