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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 60.1927

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Bertelsson, Alexander: Kunstgefühl und Kunstverständnis
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https://doi.org/10.11588/diglit.9255#0122

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KUNSTGEFÜHL UND KUNSTVERSTÄNDNIS

Man beurteilt Kunstwerke in der Regel be-
fangen. Darum hat auch ein Kunsturteil
niemals objektiven Wert. Es gibt vielerlei Be-
fangenheiten: moralische, ästhetische, philoso-
phische, historische, religiöse usw. Einem Kunst-
werk, das dem jeweiligen Standpunkt des Be-
urteilers nicht entspricht, das den Forderungen,
den Ansprüchen, die man an ein Bildwerk von
vornherein stellt, nicht nachkommt, begegnet
man ablehnend, d. h. verständnislos. So ist das
Kunstwerk nicht allein dem veränderlichen Zeit-
geschmack preisgegeben, sondern auch dem
Einzelgeschmack und Einzelstandpunkt des Be-
urteilers oder Betrachters. Es ist selbstver-
ständlich, daß auf der Grundlage solcher Be-
fangenheit, solcher Ansprüche und Forderungen
von einem Kunstverständnis nicht die Rede sein
kann. Nicht Bildung, nicht Feinfühligkeit ge-
nügen daher allein, um in ein rechtes Verhältnis
zu Kunstwerken zu treten; nicht einmal ausge-
sprochenes Kunstgefühl.

Es ist unbestreitbar, daß nur gewisse Fähig-
keiten einzelne begnadete Individuen in Stand
setzen, auch auf feinste Nuancen im Bereiche
der unerschöpflich großen Kunstproduktion zu
reagieren. Auf dem Wege ernsthaftester Be-
schäftigung mit Problemen hervorragender
schaffender Künstler gelangen diese besonders
veranlagten Menschen zu jenen hohen Ein-
sichten, von denen man sagen kann, daß sie
einem Kunstverständnis entspringen. Man sagt
vom musikalisch veranlagten Menschen, daß er
Gehör habe und meint natürlich nicht seine
vielleicht gar nicht einmal besonders gut ent-
wickelten Gehörsorgane (Beethoven kompo-
nierte bekanntlich als Tauber seine besten
Werke), sondern man meint ein ganz beson-
deres, undefinierbares, fein differenziertes inne-
res Gehör, ein Gefühl für Musik. Sicherlich
sind auch beim Maler nicht die Augen jene Or-
gane, die bedeutsame künstlerische Kombi-
nationen hervorbringen, sondern es ist auch
jenes undefinierbare innere Gesicht, jenes
Kunstgefühl, welches sich stets in Bereitschaft
hält, die Sinneseindrücke zu Kunsteindrücken
zu verbinden. Der Sinneseindruck ist der Er-
reger, der das Kunstgefühl in Bewegung setzt.
Den Sinnesorganen blieben die Geheimnisse
der Kunst in Ewigkeit verhüllt, wenn nicht das
Kunstgefühl in die Bresche treten würde.

Jedoch, gleichwie das Kunstgefühl allein den
Künstler noch nicht befähigen würde, Kunst-
werke hervorzubringen, sondern erst durch
zielbewußte Erweiterung, Entwicklung und

ständige Steigerung dieses Kunstgefühls das
künstlerische Bewußtsein gewonnen wer-
den kann, aus dem Kunstwerke hervorgezaubert
werden, so führt das Kunstgefühl allein den
Menschen noch nicht zu den höchsten Einsich-
ten, zum Kunstverständnis. Nur aus der Ent-
wicklung, Steigerung, Vervollkommnung und
Veredelung des Kunstgefühls, nach vielfachem
Kämpfen und Ringen um künstlerische Erkennt-
nisse, vor allem durch ein inniges Versenken
in das Wesen, den Ursprung und die Bedeutung
des künstlerischen Schaffensprozesses kann all-
mählich das künstlerische Bewußtsein und mit
ihm das Kunstverständnis gewonnen werden.
Nicht daß der Einzelne danach streben müßte,
alles zu umfassen, um in der Mannigfaltigkeit
sich zu orientieren, nicht auch um wissenschaft-
liche methodische Arbeit kann es sich hierbei
handeln; jedoch auch ebensowenig um die Be-
schäftigung mit einer Liebhaberei. So wie ge-
lehrte Fachwissenschaft allein niemals zur Kunst-
kennerschaft führt, wird die Kunstliebhaberei,
die sich ab und an mit Kunstinteressen abgibt,
nicht Anspruch erheben dürfen auf Kunst-
kennerschaft. Nur wer sich die Aufgabe stellt,
ganz und gar der Kunst sich hinzugeben, nicht
allein als Genießender, sondern als Dienender;
wer in die Tiefen des Schaffensprozesses der
Künstler zu dringen vermag; wer aus befange-
nem Verharren sich erheben kann; wer der Welt
mit dem Interesse des nach Erkenntnissen und
höchsten Einsichten ringenden Menschen gegen-
übersteht — der kann dahin gelangen, sein
Kunstgefühl tauglich zu machen für eine ver-
ständnisvolle Kunstbetrachtung. Wer jedoch auf
der Position irgendwelcher Standpunkte, Ein-
stellung, Ansprüche und Forderungen verharrt,
der wird niemals in eine wirklich wesentliche
Beziehung zur Kunst gelangen. Man muß das
eigene befangene Weltbewußtsein täglich auf-
geben können, will man in das Weltbewußtsein
des Künstlermenschen, in das künstlerische
Bewußtsein eindringen. Wer sich künstlerisch
erleuchten läßt, der wird auch künstlerisch
schauen. Und nur der Schauende hat ein be-
sonderes Verhältnis zur Kunst, von dem man
sagen kann, es entspringe einem Verständnis
für Kunst. Das Kunstgefühl ist die Substanz,
aus der sich das künstlerische Bewußtsein ent-
wickelt. Dem Kunstgefühl entspringt das künst-
lerische Bewußtsein und diesem das Kunstver-
ständnis. Dem Durchschnittsmenschen ist des-
halb die Kunst auch so verborgen, wie die
Dinge in der Finsternis... Alexander bertelsson.
 
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