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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 9.1895-1896

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Heft 8
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Lier, Leonhard: Kritisches über Tageskritik
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Rundschau
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https://doi.org/10.11588/diglit.11730#0130

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ter, die sich so wegwersen, namhaft zu machen, zur
Warnung des Publikums, mit desseu Vertrauen hier
ein arger Mißbrauch getrieben wird. Freilich, diese
Auguren der Presse, der modernen Weltmacht, schweigen
sich aus und lächeln nur, wenn sie sich begegnen.
Wenn hier Wandet geschaffen würde, könnte die
Tageskritik der echten Kunst große Dienste leisten.
Sie hat das Mittel des Schweigens und das des
Urteilens, sie kann blitzen und donnern oder dichte
Nebel ausbreiten. Einem echten Kuilstwerke aber
kann sie weder durch Gewitter noch durch Wolken ^
das Leben nehmen. Das ist der Humor der Sache. !

Da wir nun einmal im Zuge sind, uns mit
der Tageskritik auszusprechen, so sei endlich noch !
einer ihrer modernen Krankheiten gedacht, der Sucht
nach Entdeckungen des großen kommenden Mannes.
Es ist das eine Sucht, nnmentlich der Theaterrezensen-
ten. Wie manchen haben sie nicht schon auf den Schild
gehoben, um ihn nachher mehr oder weniger unsanft
wieder aus den Boden zu setzen! Wie viele Größen
haben sie in seherischer Ahnung der Zukunft nicht ge- !

macht, um ihnen damit mehr zu schadeu als zu uützen !
Wie viele falsche Erwnrtungen hnben sie -geweckt,
wie viele Enttäuschungen sich und anderen bereitet!
ioch fürchte, der Mann der Zukunft, wenn es einen
giebt, wird nicht von der Tageskritik gemacht werden;
er wird eines Tages, wenn er kommt, dn sein, und
die Tageskritik wird ihit erst merken, wenn es zum
Entdecken zu spät ist. Es ist mir, als hätte sich die-
! ses Schauspiel schon ein oder mehrere Male ereignet.
Wenigstens ist man jetzt gegen Entdeckungen der
Tageskritik mißtrauisch geworden, und das sollte zur
Vorsicht mahnen. Es liegt in dieser „Kreirung"
von Größen im Grunde weiter nichts als eine Selbst- i
überschätzung derer von der Tageskritik, mit der sie
sich selbst und ihrer Wirkung nur schadeu kann.
Die Tageskritik sei, was sie sein kann — der ehr-
liche Ausdruck einer persönlichen Meinung! Dnnn
wird sie, richtig als solche verstanden, verhältnis-
mäßig am meisten Nutzen und am weuigsten Schaden
stiften.

Leonb. Lier.


Nundscba u.

DicdtUNg.

* Uuser srüherer Mitarbeiter Mricb Illlein ist nm
Neujahrstage zu Charlottenburg oerschieden. Die älteren
Leser des Kunstwarts mögen sich seiner eigenartig stim-
mungsvollen Gedichte auf Böcklinsche Bilder, seiner all-
gemeineren aesthetischen Erörterungen, seiner Kritiken und
seiner Aphorismen erinnern, um zu empfinden, daß mit
ihm eine im tiefsten Sinne des Wortes liebenswerte Per-
sönlichkeit dahingegangen ist. Vor weite Kreise ist ja der
lange Jahre uon schweren körperlichen Leiden heimgesuchte
bescheidene Mann nur selten getreten. Wer aber einmal in
Beziehung zu ihm gekommen war, der ehrte ihn als einen
stillen, feinsinnigen und edeln Arbeiter von lauterster Sach-
lichkeit des Denkens, Fühlens und Urtcilens und von echt
künstlerischer und echt sittlicher Weltanschauung. Ach, unser
Schristtum hat solcher Männer so wenige, daß wir den
Verlust jedes einzelnen bitter empfinden müssen, denn
ganz zu ersetzen ist von ihnen keiner. Der Kunstwart
ruft seinem alten Freunde seinen Dank in die Grust nach,
er wird ihn nie vergessen. A.

^ Pcböne Literatur.

Die Akten des Nogelsaugs. Von Wilhelm
Raabe. (Berlin, Otto Janke. Mk. 6.—)

Die Akten des Vogelsangs schreibt für sich und seine
Kinder ein guter und tüchtiger, nicht aber ungewöhnlicher
Mensch, der Herr Oberregierungsrat I)r. jur. Karl Krum-
. hardt, aber er selbst ist nicht die Hauptperson in diesen
Akten der nun ganz und gar „eingebauten" Vorstadt, die in
seiner Jugend jenen freundlichen Namen noch nicht zu
Unrecht trug. Die Hauptperson darin ist vielmehr Va-
lentin Andres, genannt Velten, einer, der in den Augen

der Welt cigentlich zu gar nichts gekommen und in elen-
der Armut gestorben, trotzdem jedoch nach des Herrn
Oberregierungsrates geheimer Herzensmeinung eigentlich
reicher gewesen ist, als die nnderen. - Eines nümlich hat er
immergehabt, derSondcrling, einen eigenen Willen, und den
hat auch er immer durchgesetzt, denn immer ist er ein gänz-
lich sreier Mensch gewesen. Da lesen wir nun, wie aus
dem Weltchen der Kleinstadtsvorstadt der auf sich selbst
beruhende Kraftmensch herauswächst, und serner sie, die er
liebt, die Helene Trotzendorff aus,Amerika, die auch ihren
Willen bekommt, eine große Millionärin wird und schließ-
lich doch ihr Heiligstes !im kahlen Sterbestübchen Veltens
findet. Noch eine Anzahl großer und kleiner, freier und
unfreier Menschen mehr gehen mit den Beiden durchs Bild,
dessen Hintergrund selber, „der Vogelsang", sich allmählich
verwandelt.

Und wie wir lesen, ist es uns bald, als wären wir
hier nicht mehr Zuschauer, sondern beteiligte Leute, als
wäre das Bild gar kein Bild mehr, sondern selber Leben.
Das also erreicht Raabe — das Höchste, was „dich-
terische Technik" erreichen kann. Und wir sind doch
überzeugt, daß er bei seinem Schaffen sich uicht im min-
desten um irgend eine Art „dichterischerTechnik" kümmert
— macht er doch ganz gewiß manchem Philister der nor-
mativen Aesthetik durch seine „Gesetzesverachtung" die
Haare sträuben. Zwar, wir kennen Romane Raabes,
bei denen das Kaleidoskop seiner Phantasie die bunten
Steine noch mehr durcheinanderschüttelt. Aber schon die-
ser Roman könnte schön genug zum Beispiel gebraucht
werden, daß die Aesthetik anderes zu thun hat, als für
die Künstler „Gesetze" zu geben.

Der Ouell, aus dem Raabes Kunst emporsteigt, iü

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