Lrstes Nprilbett I5Sv.
13. Dekt.
Derausgeber:
zferdinand Nvenarius.
vierteljährlich 2>/e INark.
9. Zadrg.
Äbersebätzung der Mmst.
-^?^mmer mieder treffen wir, auch in Zeitschriften
uird Büchern, auf Warnungen oor einem
Überschätzen der Kunft. Handelte sich's da
nur um banaufifches Geschwätz, es brauchte uns nicht
viel zu beschäftigen. Aber die Verfaffer folcher Äußer-
ungen find keineswegs lauter Kunstfeinde, es find
sogar Leute darunter, aus deren Worten eine warme
Liebe zur Kunst spricht, Leute, die gerade deshalb
von ihren Bedenken aufrichtig beunruhigt werden.
llnd fo wäre es ebenfo ungerecht, wie es thöricht
wäre, überlegen lächelnd an ihnen vorbeizuhören.
Daß ich es geradezu bekenne: ich finde fehr vieles,
was die Gegner einer „ästhetifchen Kultur" vor-
bringen, vollkommen berechtigt. Was man im
allgemeinen unter einer „üfthetifchen Kultur" ver-
steht, auch ich halte es keineswegs für erfehnenswert,
und bei hundert einzelnen Bemerkungen stehe ich nahe
zur Seite meiner Gegner. Dennoch fcheint es mir
durchaus irrig, von der Kunft nur wie von einem
„Schmucke" des Lebens zu reden, und ich glaube,
daß man von einem „Überfchätzen" der Kunst nicht
sprechen dürfte. Soll ich mich nach diefem perfön-
lichen Bekenntnis zu einer Auseinanderfetzung mit
unfern Gegnern im einzelnen wenden? Jch hoffe,
wir verständigen uns, wenn ich auch von meiner Auf-
faffung vom Bildungswerte der Kunst ohne viel
Polemik fpreche.
Es ift wahr, gerade der höhere, geistigere Kunft-
^ genuß bringt eine Gefahr mit fich, die zu all fenen
Bedenken auch kunstfreundlicher Männer den eigent-
lichen Grund gegeben hat, wenngleich man sich deffen
nicht immer bewußt ward. Jch deute auf das Leben
in Scheingefühlen, in Phantafievorftellungen und
Phantasieempfindungen, denen das Substrat im wirk-
lichen Leben fehlt. Es ift eine alte Erfahrung z. B.,
daß fchwelgerifche Menschen keineswegs immer das
undankbarfte Publikum geben für Kunftwerke, deren
geistiger Gehalt asketifch geftimmt ist, ja, dnß fie solche
mit ganz aufrichtigen Gefühlen genießen können, ohne
deshalb ihr Leben im mindesten zu verändern. Jn
den Fliegenden Blättern ftand kürzlich ein Scherz mit
! einem fehr ernften Hintergrunde: ein Bankier, dem
ein Schnorrer vorklagt, kingelt weinend feinem Diener:
„wirf ihn hinaus, den Mann, er zerreißt mir 's Herz!"
Diefer Bankier empfand die Klagen des Bettlers
ganz aufrichtig — aber äfthetifch, in Scheingefühlen;
ästhetifche Eindrücke können ja auch unlustvoll fein.
Er empfand fie äfthetifch, wie ein Schwächling die
Ballade vom mutigen Helden empfindet, die ihn
erfreut, aber nicht ftärkt, wie die fervile Menge das
Theaterftück vom Männerftolz vor Königsthronen
empstndet, oder auch: wie der überzeugte Atheist das
glaubensinnige Mpfterium des Mittelalters oder die
> Weihegeftalt des Parfifal. Wir können ein Kunstwerk
sehr wohl mit voller Stürke genießen, ohne daß es
uns sürs wirkliche Leben im mindesten zur Gesinnung
13. Dekt.
Derausgeber:
zferdinand Nvenarius.
vierteljährlich 2>/e INark.
9. Zadrg.
Äbersebätzung der Mmst.
-^?^mmer mieder treffen wir, auch in Zeitschriften
uird Büchern, auf Warnungen oor einem
Überschätzen der Kunft. Handelte sich's da
nur um banaufifches Geschwätz, es brauchte uns nicht
viel zu beschäftigen. Aber die Verfaffer folcher Äußer-
ungen find keineswegs lauter Kunstfeinde, es find
sogar Leute darunter, aus deren Worten eine warme
Liebe zur Kunst spricht, Leute, die gerade deshalb
von ihren Bedenken aufrichtig beunruhigt werden.
llnd fo wäre es ebenfo ungerecht, wie es thöricht
wäre, überlegen lächelnd an ihnen vorbeizuhören.
Daß ich es geradezu bekenne: ich finde fehr vieles,
was die Gegner einer „ästhetifchen Kultur" vor-
bringen, vollkommen berechtigt. Was man im
allgemeinen unter einer „üfthetifchen Kultur" ver-
steht, auch ich halte es keineswegs für erfehnenswert,
und bei hundert einzelnen Bemerkungen stehe ich nahe
zur Seite meiner Gegner. Dennoch fcheint es mir
durchaus irrig, von der Kunft nur wie von einem
„Schmucke" des Lebens zu reden, und ich glaube,
daß man von einem „Überfchätzen" der Kunst nicht
sprechen dürfte. Soll ich mich nach diefem perfön-
lichen Bekenntnis zu einer Auseinanderfetzung mit
unfern Gegnern im einzelnen wenden? Jch hoffe,
wir verständigen uns, wenn ich auch von meiner Auf-
faffung vom Bildungswerte der Kunst ohne viel
Polemik fpreche.
Es ift wahr, gerade der höhere, geistigere Kunft-
^ genuß bringt eine Gefahr mit fich, die zu all fenen
Bedenken auch kunstfreundlicher Männer den eigent-
lichen Grund gegeben hat, wenngleich man sich deffen
nicht immer bewußt ward. Jch deute auf das Leben
in Scheingefühlen, in Phantafievorftellungen und
Phantasieempfindungen, denen das Substrat im wirk-
lichen Leben fehlt. Es ift eine alte Erfahrung z. B.,
daß fchwelgerifche Menschen keineswegs immer das
undankbarfte Publikum geben für Kunftwerke, deren
geistiger Gehalt asketifch geftimmt ist, ja, dnß fie solche
mit ganz aufrichtigen Gefühlen genießen können, ohne
deshalb ihr Leben im mindesten zu verändern. Jn
den Fliegenden Blättern ftand kürzlich ein Scherz mit
! einem fehr ernften Hintergrunde: ein Bankier, dem
ein Schnorrer vorklagt, kingelt weinend feinem Diener:
„wirf ihn hinaus, den Mann, er zerreißt mir 's Herz!"
Diefer Bankier empfand die Klagen des Bettlers
ganz aufrichtig — aber äfthetifch, in Scheingefühlen;
ästhetifche Eindrücke können ja auch unlustvoll fein.
Er empfand fie äfthetifch, wie ein Schwächling die
Ballade vom mutigen Helden empfindet, die ihn
erfreut, aber nicht ftärkt, wie die fervile Menge das
Theaterftück vom Männerftolz vor Königsthronen
empstndet, oder auch: wie der überzeugte Atheist das
glaubensinnige Mpfterium des Mittelalters oder die
> Weihegeftalt des Parfifal. Wir können ein Kunstwerk
sehr wohl mit voller Stürke genießen, ohne daß es
uns sürs wirkliche Leben im mindesten zur Gesinnung