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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 9.1895-1896

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Heft 13
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Avenarius, Ferdinand: Überschätzung der Kunst
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https://doi.org/10.11588/diglit.11730#0208

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seines Schöpfers bekehrte. Wir sind dnnn wie in
der Hppnose, solange ivir unter seiner Wirkung
stehen, und reproduzieren, wieder ästhetisch hypnoti-
siert, leicht den Zustand der srüheren Hypnose, aber
unser waches Leben kann weiter gehen, ohne bemerk-
lich dauon beeinflußt zu sein.

Das ist wohl das Wichtigste, was diesenigen
ubersehen, die hoffen, durch eine nur „künstlerische"
Bildung einmal die religiösc und sittliche ersetzen zu
können. Und dennoch, wir wiederholen es, glauben
wir, daß eine rechte ästhetische Bildung gar nicht
überschätzt werden kann. Die Eins eitigkeit der
Erziehung ist es, die hier schadet. Ein volles Menschen-
tum erblühen zu lassen, braucht es ästhetischer
Erziehung, aber es braucht dazu auch der Ergänzung
durch die W i r k l i ch k e i t.

Wer sich sast ausschließlich mit Kunstwerken,
sagen wir beispielsweis: mit Gemälden beschüstigt,
wird dessen natürlich nach einiger Zeit müde. Ein-
seitige Kunsterziehung würde ihn trotzdem iveiter damit !
beschäftigen — und sie erzöge dann vielleicht einen
unsrer „Kenner". Streifte aber der kunstmüde Mann
zur Erholung in der Gotteswelt herum, er ivürde
wohl sehen, daß seinem schon teise verseinerten Auge
die Natur mehr zu zeigen hat, als zuvor. Und wenn
er nach ruhigem Genießen der Wirklichkeit wieder !
vor Bilder träte, so sähe er wieder in diese n jetzt
mehr. Jn Wechselwirkung steigerte sich seine Freude
an Kunst und Natur, — nicht nur, daß seine Sinne
sich bildeten; mit jeder Maler-Persönlichkeit, die er
erfaßte, erschlössen sich ihm auch die Seiten der
Natur, die sich zuerst dieser Künstlerpersönlichkeit er-
schlossen hatten. Und so ist es bei der Beschästigung
mit jeder Kunst: nur in immer wieder erneuter
Berührung mit der Wirklichkeit gedeiht sie und wirkt
sie gedeihlich. Bildest du einen Sinn für den Genuß
an Architektur, so vergiß nicht, ihn auch sür nll die
Bedürfnisse empfänglich und verständig zu machen,
denen die Baukunst zu phantasievollem Ausdruck ver-
hilst: er könnte sich s o n st phnntastischem Spiele
zuneigen, er wird s o eine viel tiesere und gesundere
Freude an glücklichen und schönen Lösungen, sinden.
Lehrst du Musik genießen, benutze die Stimmungen,
die sie erweckt, um tiefer in die Seelenerscheinungen
selber eindringen zu lassen, die von der Musik ver-
mittelt werden. Willst du das Verständnis sür Dicht-
kunst pslegen, laß sie immer vor allem Anregung

sein, zu den Tiesen und Höhen, in die Stärken und
Schwächen, in das Helle und dunkle Weben des
Menschengeistes und der Geschichte, der Natur, kurz,
der Wirklichkeit in allen ihren Gebieten zu dringen.
Dann kehr'e zur Kunst zurück: und was du von der
Wirklichkeit empsangen, wird nun wieder sie, die
Kunst, in vollerem Lichte zeigen, und dieses vollere
Licht ivird dir abermals die Natur satter beleuchten.

Nein, nicht in der Vermittelung des Genusses
von Kunstwerken liegt die höchste Bedeutung der
richtigen ästhetischen Erziehung, mag jener Genuß auch
zu den höchsten Gürern des Lebens zühlen. Sondern
darin, daß sie uns unsre Erdenheimat mit dem, was
aus ihr in Körpern oder Seelen ist und war, mit
verfeinerten Sinnen und geläutertem Einpsinden zu
betrachten lehrt, so daß wir schier ununterbrochen in
edelm Sinne genießen. Dem s o ästhetisch Gebildeten
wird jedes Stückchen Wiese und Himmel, aber auch
jedes Mcnschenangesicht zum Bild, der plätschernde
Bach und der rauschende Wald singen ihm Melodien,
die kein anderer hört, und Komödien und Tragödien
spielt das Leben um ihn, wo andre kaum Glück oder
Unglück sehn: reicher und gehobener ist sein ganzes
Sein. Der ununterbrochene Zusammenhang mit der
Wirklichkeit hat in ihm das Spielerische der nur
ästhetischen Bildung aufgelöst und seinem Empsinden
das Mark gegeben, indem er die Scheingesühle er- >
gänzte oder in Realgesühle umsetzte. Wie sollte solch
ein Mensch im Leben minder tüchtig stehen? Jhn
sührt ja die Kunst, die den nur „künstlerisch Ge-
bildeten" vom Leben nbzieht, erst recht in die Tiefen
des wirklichen Lebens hinein.

Zum dritten Male: wir glauben nicht, daß eine
ästhetische Erziehung überschätzt werden kann, wenn
sie in solcher Weise geschieht. Wollen wir ganze
Menschen bilden, brauchen wir die ästhetische Erzieh-
ung nicht mehr und nicht weniger, brauchen wir sie
genau ebenso notwendig, wie ihre Ergänzungen, die
Erziehung des Denkens, der Sittlichkeit, sowie der
körperlichen Tüchtigkeit.

Denn sür den vollen Menschen bedeutet sie
durchaus keinen „Schmuck", den man wegnehmen
oder belassen kann, sondern die Krästigung ange-
borener geistiger Organe. Wir müßten ohne diese
Kräf'tigung in unsrer einseitigen Überkultur verkümmern
zu geistigen Krüppeln. N.
 
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