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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 9.1895-1896

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Heft 9
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Wittich, Manfred: Gut Deutsch!
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Rundschau
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https://doi.org/10.11588/diglit.11730#0145

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Staate gepflegt würden aus dem Ertrag auch ihrer
Steuern auch für sie. Dem Gebiete der qualifi-
zierten dlrbeit geheu dadurch wieder eine Masfe zur
Mitarbeit berufeuer und bei gefuudeu Verhältniffen
gewiuubarer Kräfte verloreu. Diese künftlich Ver-
kümmerteu uud Verkrüppelten hätten daun das gute
Recht, die Gesellfchaft uud ihre Eiurichtungeu anzu-
klagen um der ihueu augethanen Benachteiligung willen.

Ebeufo die Wiffenfchaften und Künste durch ihre
wahren Vertreter und Freunde. Denn das ist wohl
eine ausgemachte Sache, die aus den Annalen der
Gefchichte, der Künfte und Wisfenschaften fich un-
widerleglich ergiebt, daß ohne fteten Zufluß neuen
Blutes aus dem Mutterboden des „gemeinen Volkes"
Künste und Wisfenfchaften nicht gedeihen können.

Die politische Seite der Sache foll mich hier gar
nichts angehen (man müßte Miltons über zweihundert
Jahr alte Lrroopa^-itica abdrucken), obwohl meiner
Anficht nach Pfau ein Recht hat, Kunft und Wiffen-
schaft für „foziale Faktoren" zu erklären. Aber so
gewiß Wahrheit und Freiheit das Lebenselement für
Kunst und Wiffenfchaft find, fo gewiß müffen beide
in einer Amwsphäre der Unfreiheit und Lüge Schaden
leiden. Jeder Zollbreit Boden, der der volkstümlichen,

der wahrhaftigen, wenn auch volkstümlich derben
Kunft der Rede entzogen wird, giebt ein Wucherbeet
für gesährliches Unkraut von Afterkunft.

Preßprozesfe und Bühnenaufführungs - Verbote
neuerer Zeit haben gelehrt, daß das, was heute den
fozialdemokratifchen Worthalter trifft, morgen feden
beliebigen anderen falsch gehörten Redner oder miß-
verstandenen Schreiber ebenfalls treffen kann. Die
redenden Künste werden damit entmannt. Und das
Volk kann fie doch nicht entbehren, foll anders fein
Leben fich organifch und glücklich entfalten, ebenfo wie
wahre Wiffenschaft und Kunft das Volk nicht ent-
behren kann.

Für jedermann, der auch nur für eines von
beiden, für unfer Volk, oder für Kunst und Wiffen-
schaft ein Herz hat, ergiebt fich klar die Pflicht dahin
^ zu wirken, daß Wahrheit des Worts wie Freiheit des
Gedankens aus den schweren Kämpfen unferer Tage
fiegreich hervorgehen. So handelt sich's hier um die
oberste und wichtigfte „allgemeine Angelegenheit", bei
der auch nicht einer im Votke unintereffiert ift. Ueber-
läßt man das Eintreten dafür allein den Sozialdemo-
kraten, fo werden diefe dereinst allein die Früchte
ihres Eintretens ernten. Mankred Mltticb.


N u n d

Dicdtung.

» Scbrrtten über Literatur.

Das Elend der Aritik. Von Wilhelm Weigand.
(München, Hermann Lukaschik, fG. Franz'sche Hofbuchhand-
lungf Mk. 2.-^0).

Weigands neueste Veröffentlichung, „Das Elend der
Kritik", befteht in der Hauptsache aus bereits in seinen
Essays Gegebenem, Abhandlungen über die beiden großen
sranzösischen Kritiker Sainte-Beuve und Taine, die etwas
umgearbeitet sind und einige Zusätze erhalten haben. Doch
werden die Abhandlungen durch eine dazu geschriebene
Einleitung und einen Schluß, die von den zwöls Abschnitten
des Buches vier einnehmen, in eine bestimmte Perspektive
gerückt, sie erscheinen in neuem Zusammenhange neu,
Weigand hat ihnen, um ein drastisches Bild zu gebrauchen,
wie einem Rumpfe Kopf und Beine angefügt. Nach dem
Titel des Buches wird man in ihm wohl vielfach einen
Nachweis der Nichtswürdigkeit unserer deutschen Kritik zu
finden meinen. Es giebt da auch eine Stelle, die diese hart
angreift, und die es sich wohl lohnt, hierher zu setzen: „Es
steht schlimm mit der Kritik in Deutschland, schlimmer, als
es aus den ersten Blick scheinen mag. Es sehlt an unab-
hängigen Männern, die das Bedeutende, Lebensvolle, Ge-
sunde zu würdigen wissen und das Vertrauen der Nation
besitzen; es sehlt an Zeitschriften, deren Leiter ein Auge
auf alles Werdende haben, unbekümmert um Verlegernutzen

s cl) a ll.

und Fehdewesen; es sehlt an einem veredelten Geschmack,
der das Beste aus der ungeheuren Fülle des Trefflichen
kennt und das Verdorbene und Flüchtige ablehnt. Um über
Werke der Kunst oder der Dichtung zu urteilen, ist aus alle
Fälle eine gewisse Kenntnis ihrer besonderen Technik von
nöten; dennoch hält sich jeder für befugt, über jedes Werk
und jeden Menschen zu Gericht zu sitzen; das intellektuelle
Gewissen macht sich nirgends bemerkbar. Sagen wir es
nur heraus: die deutsche Kritik ist, von einigen Ausnahmen
abgesehen, ohnmächtig, unfruchtbar, ohne Tiese, ohne
Achtung, ohne Einfluß; und sie verdient ihr Loos." Aber
Weigand hat viel weiter gehende Absichten, als der deut-
schen Kritik eins zu versetzen, über deren Wert inan ja im
Ganzen einig ist, wenn man ihr vielleicht auch insoferne
Unrecht thut, als man sie nach dem von der Tagespresse
Geleisteten beurteilt. Er will das Elend der Kritik uber-
haupt, ihre gewissermassen u priori unglückliche Stellung
zur Produktion darthun, und findet es darin, daß sie,
einem menschlichen Grundbedürfnis zusolge, immer wieder
in Dogmatismus versällt. Selbst die beiden großen Kritiker
der Franzosen, das ist dann der Hauptteil seiner Aus-
sührungen, leiden unter diesem Elend, so Glänzendes und
Bedeutendes sieauch geleistet haben. Namentlichdie Abhand-
lung über Taine ist sehr weit ausgeführt, wir erhalten
eine vollständige Darstellung seines Lebens und Schaffens;
weil Taine aber ein vortreffliches Beispiel ist, wie trotz
aller naturwissenschaftlichen Methode der Dogmatismus
 
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