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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 9.1895-1896

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Heft 9
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Wittich, Manfred: Gut Deutsch!
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https://doi.org/10.11588/diglit.11730#0144

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machsen ist. Solche Beamtenberichte, auch menn nach
stenographischen Auszeichilungen abgesaßt, verhalten
sich ost genug zu dem wirklichen Vortrag, den sie
wiedergeben wollen, wie eine nicht näher zu kenn-
zeichnende Handpause zu einem Oelgemälde. Von
den „Verzeichnungen" durch eine dem Redner etma
übelwollende Stimmung sehe ich dabei noch voll-
kommen ab.

Schon betresfs der richtigen sinnlichen Ausnahme
durchs Ohr giebt's ja Schwierigkeiten. Goethe hat
in einem seiner dramaturgischen Aussätze eine reiche
Anzahl von Hör- und Sprechsehlern zur Warnung
sür Schauspieler und ihre Hörer zusammengestellt.
Dieses Verzeichnis ließe sich unendlich erweitern.

Bei der Gerichtsverhandlung schwört der Beamte
als Zeuge mit der größteu Bestimmtheit: der Redner
hat das und das buchstäblich gesagt, und es ist doch
nicht wahr, wahr ist nur: der Beamte hat das und
das g ehört, der Redner hat aber in Wahrheit viel-
leicht sogar das Gegenteil gesagt, und ein einziges
salsch gehörtes Wort hat die Verdrehung des Sinnes,
wie sie der amtliche Polizeikritiker gehört zu haben
selsensest überzeugt ist, verschuldet. Schwört der voll-
kommen unschuldige Angeklagte oder einer seiner
Zeugen, was wirklich gesagt worden ist, so können
sie unter Umständen für den Hörsehler des Beamten
ins Zuchthaus wandern - unter ihrem dessallsigen Ur-
teil wird doch zu lesen stehen: Von Rechts wegen.

Wie viele Leute, die gern auch dem schwer nr-
beitenden Volke geistige Genüsse durch öffentliche
Rede über Gegenstände der Wissenschasten und Künste
vermitteln, oder, wie man wohl zu sagen pslegt, die
Klust zwischen den Gebildeten (schulmäßig Gebildeten)
und Ungebildeten(Ungeschulten) schließen helsen möchten,
mögen sich wohl solchen Gesahren aussetzen? Die
edle Arbeit an der Volksbildung muß unter solchen
Verhältnissen unbedingt lciden, weil ihr Arbeitskräste
entzogen werden.

Jch kenne eine gute Anzahl von Männern der
Künste und Wissenschaften, die den Willen und das
Zeug dazu hätten, mit thätig zu sein in persönlichem
Handarilegen an die Hebung der Gesamthöhe unserer
Volksbildung, — die es aber aus Scheu vor „Unbe-
quemlichkeiten" unterlassen. Viele sürchten schon durch
ein bloßes öffentliches Wirken der Art in den Geruch der
Anhängerschaft zur Sozialdemokratie zu kommen und
sich gesellschastlich oder geschäftlich zu schaden.

Das ist schon ein schwerer Uebelstand, deirn nun
ist das Feld eben von den eigentlich Berufenen zum
Teil verlassen, behauptet wird es nur noch von den
Kühnen und Mutigen. Und sreilich, so sehr manche
unter ihnen auch an Wissen und Können denen nach-
stehen mögen, die das Arbeitsfeld im Stich lassen, ist
es doch als Segen sür unser Volk zu betrachten, daß

es solche Mutige noch giebt, um nach Möglichkeit
auszugleichen, was die Fahnenslucht der Vorsichtigen
und Bequemen der Volksbildungssache schadet.

Durch das Zurückziehen der Berufenen, die nach
meiner Meinung krast höheren ungeschriebenen Gesetzes,
des vffro; der Antigone, die V e r p s l i ch t e-

ten sind, leidet das Volkschwere Einbuße an den voll-
kommen gerechtfertigten Ansprüchen, die es eben an
die „nach Besitz und Bildung sührenden Klassen" zu
machen hat. Und das Endergebnis ist: obgedachte
Kluft, über die wohlmeinende Menschenfreunde so
beweglich klagen, wird immer größer und weiter, so
daß an ein Ausfüllen und Ueberbrücken immer weniger
gedacht werden kann.

Was ist nun weiter die Folge, immer rein vom
Standpunkt der allgemcinen Volksbildung, der wissen-
schaftlichen und künstlerischen Jnteressen geurteilt?
Die ausharrendeu öffelttlichen Redner sind genötigt,
sich vor allen Dingen zu Jongleurs und Eiertänzern
der Rede auszubilden um nicht, volkstümlich zu sprechen,
irgendwo „ins Fettnäpschen zu treten." Jhre Aufgabe
wird ihnen ganz wesentlich schwerer gemacht. Die
aufgewendete Mühe geht ihrem eigentlichen Zwecke,
das Volk in Wissen und Verstehen zu sördern, ver-
loren, ihre Arbeit muß darunter an Wert verlieren.
Die wenigsten werden ihre volle Sicherheit bewahren,
tastende Ungewißheit wird die weniger Festen und
Durchgebildeten besallen und sie natürlich befnngen
machen, ihre gedeihliche Wirkung lähmen, ja sie selbst
gesährden. Gegerr den ckolus eveutualis ist ja srei-
ich kein Kraut geivachsen! Das werden sich die
Mutigsten sagen, — und ihnen allein wird schtießlich
das Feld gehören.

Die Mehrzahl aber wird in ihrer Ausdrucks-
weise so vorsichtig, so künstlich werden beim öffent-
lichen Reden, daß schließlich gar kein Nerv, kein Cha-
rakter mehr darin ist. Die Kunst der öffentlichen
Verlautbarung in Rede und Schrist wird kraftlos,
drückebergerisch, waschlappig werden. Man wird der
mcchanischen Gewalt die List entgegensetzen, man
wird Hörer und Leser nötigen, zwischen den Zeiten
und Sätzen zu suchen, und dieser Mangel an Offen-
heit und Wahrheit, unbedingter Wahrheit, wird mit
der sittlichen Aufrichtigkeit auch den Stil der Redekünste
vergisten.

Der Wortkunststückchenmacher, der Redegnukler
wird über den Mnnn von Charakter siegen, die Phrase
wird noch mehr zur Herrschaft kommen, als sie
ohnehin herrscht.

Und aus der Tiefe des Volkes werden Unge-
zählte, die sich herausarbeiten könnten, sich und der
Gesamtheit zu Nutz und Frommen, in ihrer Entwick-
lung gehemmt. Sie verzweiseln daran, daß Künste
und Wissenschasten auch sür sie da seien, vom


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