Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Hinweis: Ihre bisherige Sitzung ist abgelaufen. Sie arbeiten in einer neuen Sitzung weiter.
Metadaten

Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 9.1895-1896

DOI Heft:
Heft 10
DOI Artikel:
Bie, Oscar: Unsere musikalische Subjektivität
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.11730#0159

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Lwcites Fcbruarbelt I8S6.

10. Dett.


Dcrausgeber:

zferdinand NnenarLus.

Bezugspreis:
Bierteljährlich 2ps Mark.

9. Zabrg.

Illnsere musiknliseke Lubjektivität.

-b

sie Musik ist noch so sehr eine werdende, eine
in der Entwicklung befindliche Kunst, daß
man bisher wenig davon merkt, daß ihre
Geschichte aus ihre Fortbildung einen Schatten wirst,
wie es ja bei den anderen Künsten der Fall ist. Die
Baukunst von heute wäre ohne Anlehnung an alte,
sertige Stile nicht zu denken, die Malerei und Plastik
nicht ohne Durchsetzung mit ererbten und bewußt
einverleibten Motiven, die Dichtung nicht ohne das
historische Gewissen, welches die Charakteristik ist.
Die Musik hat dieses historische Gewissen noch nicht.
Jhre Charakteristik ist durchaus subjektiv, niemals ob-
jektiv. Jhre Assoziationen sind relativ, niemals ab-
solut. Jhre Motive sind in slüssigem Zustande, spie-
geln sich in jedem Zeitalter verschieden wieder, ihre
Formen sind nur in der Entwicklung und sind über-
wunden, wenn sie ersunden sind. Kein Wunder bei
der staunenswert vielseitigen Entfaltung, welche diese
Kunst seit dem Altertum bis zu diesem Tage aufgezeigt
hat. Unsere Plastik arbeitet mit antiken Mustern — die
Musik von heute ist das gerade Gegenteil der antiken.
Unsere Malerei knüpst langsam an die Ueberlieser-
ungen des vorigen Jahrhunderts wieder an — die
Musik von heute steht gegen die des vorigen Jahr-
hunderts wie Michelangelo gegen Kalamis. Ein in
der Kunstgeschichte sonst unerhörter Vorgang.

Eine Folge dieser herrlichen Ungeschichtlichkeit
unserer Musik ist das Schwanken aller Urteile. Die
Subjektivität der Kunst selbst verursacht die Subjek-

tivität in ihrer Behandlung. Jch will drei Fälle
davon ansühren. Der erste bezieht sich aus die Aus-
legung des Musikstückes seitens des Ausführendeu,
der zweite aus die Aussührung eines Musikstücks unter
veränderten Zeitverhältnissen, der drirte aus die mu-
sikalische Kritik. Jch stelle die Fälle zunächst neu-
tral hin.

Die Coriolanouvertüre von Beethoven sderen
musikalische Bedeutung verhältnismäßig wenig ge-
würdigt wird) ist rVIIc^ro oon drio überschrieben.
Man hatte sie auch immer recht schnell gespielt.
Bülow nahm das Tempo bedeutend langsamer. Ein
con brio war es nicht mehr. Richard Strauß diri-
giert sie heut ebenso. Die Wirkung war eine über-
raschende. Die gewaltige Charakteristik dieses gran-
diosen Werkes kam viel mehr zum Ausdruck. Sowohl
das aussteigende Achtelthema des Hauptmotivs wie
das wiegende Nebenthema gingen tiefer ins Herz.
Aber an dem Mittelteil, der zuerst in O-rnoll aus-
tritt, scheiterte die Auffassung. Diese stoßende Be-
gleitung und diese punktierte Melodie klangen wie
entblößt, wie ein Holzgestell, dem das Gewand ab-
genommen ist. Der Grund lag auf der Hand.
Dieser Teil steckte trotz aller Charakteristik noch zu
sehr in den überlieserten Figuren einer älteren Musik,
als daß die moderne Auffassung nicht hätte zu Stil-
losigkeiten sühren müssen. Aber diese Zwitterstellung
(eine echt Beethovensche) zwischen überlieserten üußeren
Formen und höherem individuellen Jnhalt ist schließ-

M Mk Kebiclk be§
 
Annotationen