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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 9.1895-1896

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Heft 19
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Sprechsaal
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https://doi.org/10.11588/diglit.11730#0315

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Lprecbsaal

Ü ber R a t u r g e u u ß.

Eigentlich sollten wir die „Natur", richtiger gesagt:
die Landschastsbilder nicht unthätig genießen, einzig
unsere Sinne spannend, nrit dem Geiste auf die Beobacht-
ung zielend. Bei absichtlichein Ansehen, wie es der Tourist
und Spaziergänger übt, bemerken wir zwar vieles, aber
schauen wenig. Denn die Hauptsache beim Schauen ist
ein seelischer Vorgang. Es kommt vor allem darauf an,
daß die photographische Platte richtig vorbereitet sei,
welche das Bild auszunehmen hat; auch ist es vorteil-
hafter, wenn das Bild sich unvermutet aus ihr spiegelt,
als wenn mir es mit dem Wunsch und dem Willen her-
beirufen.

Fragen Sie sich doch selbst: Welche Naturbilder
hastcn am gründlichsten, am deutlichsten und nachhaltigsten
in Jhrem Gedächtnis? Etwa jene, welche Sie als Tourist
bewundernd anstaunten? Keineswegs. Mögen Sie noch
so aufmerksam hingesehen haben, es bleiben Veduten, die
sich entweder rasch verflüchtigen oder die, salls es Jhnen
auch gelingt, sie mit der Erinnerung zu wiederholen, doch
des inneren Gehaltes, mit anderen Worten der Bezieh-
ungen zu Jhnen entbehren. Dagegen jene Naturszenen,
in welchen Sie Glück oder Leid erfuhren, jene Krtlich-
keiten, wo Sie als Kind spielten, wo Sie als Jüngling
ctwas wollten, wo Sie als Mann etwas thaten, ferner
jcne , wo Sie eine wichtige Nachricht erhielten, kurz jene
in deren Rahmen sich Jhnen etwas ereignete, die glühen
mit unauslöschlichen Farben über unverwischbarer
Zeichnung.

Man muß die Natur erleben: sie darf nur die
Szene abgeben, in welcher Sie Geist und Gemüt regen.
Der Thätige hat den vollkommensten Naturgenuß; der
Arbeiter, der von der Arbeit aufblickt, der Künstler oder
Denker, der sorgenvoll seinen Plänen nachsinnt,ider Ge-
lehrte, der Entdecker, der etwas sucht. Sie sehen ungleich
weniger, als der müßige, aufmerksame Wanderer, aber sie
sehen des Wenige unendlich mehr.

Neulich, am Gotthard, bei Jnschi zwischen den
sprudelnden Bächen über der tosenden Reuß, begegnete
ich einer wandernden Ntüdchenschule. Mit Tornistern und
Bergstöcken bewasfnet, mit Alpenrosen verblümt, begleitet
von Lehrern und Lehrerinnen, schwatzend, lachend und
singend. Der Direktor, an der Spitze schreitend, stieß ab
und zu in ein Histhorn, um seine Herde zu sammeln.
Nichtsdestoweniger schlappte ein Züglein nach, weit hinter
den übrigen, um einen jungen Lehrer geschart, dessen
Worten sie eifrig lauschten. Keines sah sich um: auch
vermute ich, daß von allem eher die Rede war, als von
der Geographie und Ästhetik des Reußthales; vielmehr
schien mir, als ob sich da ein Romänchen anzettele. Allein
glauben Sie nicht, jener Lehrer und jene Mädchen, obschon
sie die meiste Zeit mit nichten die Landschast, sondern
ihres Nächsten Angesicht betrachteten, werden zeitlebens

die Szenerie des Reußthales tiefcr im Herzen eingegraben
behalten, als wir achtsamen, beslissenen Naturgucker?

Jenes zerstreute Schulkonglomerat habe ich beneidet.
So sollte man eigentlich wandern. Larl Sxitteler.

Ueber Rezitatiou

fanden sich unlüngst im Kunstwart einige Bemerkungen,
zu denen mir ein paar Worte vergönnt sein mögen.

Hat wirklich der Rezitator die Bedeutung für unser
^ modernes Kunstleben, welche ihm von Frep zugestanden
wurde? Soll er dem überlasteten kunstbedürstigen Menschen
von heute gar erst den Kunstgenuß vermitteln, so kommt
natürlich auf die Wahl seiner Stoffe Alles an. Es wurde
schon erwähnt, daß vor Allem die dramatische Dichtung
den Rezitator lockt, besonders weil er hier dem lieben
Pathos vollsten Spielraum gewähren kann, das m seinem
breiten trüben Strom so leicht nlle die Jnselchen hinweg-
schwemmt, die ein seiner Dichter zur Abwechslung geschaffen
hat. Viele unserer Schauspieler und die meisten Rezitatoren
wären ihrer ganzen Anziehungskraft beraubt, wenn man
ihnen das Pathos nähmc. Wäre das so gewiß ein Schaden?

Jch dächte, die Lyrik und Epik allein sollten dem seinen
Rezitator als Feld seiner Bethätigung angewiesen werden ;
füc individuelle Neigungen, wie sie seine Begabung er^
zeugt, lassen ihm die mannigfachen Spielarten dieser beiden
Dichtgattungen noch genug Raum.

Mehrfach wurde der Versuch gemacht, Novellen und
sonstige kleinere Geschichten zu rezitieren; daß er scheiterte,
scheint mir nicht an dcr Unverwendbarkeit des Stoffes,
aber an den ungeheuren Anforderungen zu liegen, die er
an die Modulationskraft des Vortragenden stellt. Selbst
ein guter Rezitator wird hier der Gefahr der Langeweile
kaum entgehen; nach meinen Ersahrungen wenigsten's
wiegte er jedesmal das Publikum in den Zustand seliger
Unbewußtheit, aus dem es erst durch das Verlangen ge-
weckt wurde, die Beendigung der Novelle mit dankbarem
Beifall zu begpüßen.

Viel schlimmer als einzelne Mißgriffe der Rezitatoren
bei der Wahl der Gattung ihrer Stoffe ist die geschmack-
lose Zusammenstellung ihres Programms- Jn dem Be-
streben, ihre Kunst nach allen Seiten zu zeigen, d. h. doch :
sich selbst und nicht den Dichter zu Worte kommen zu
lassen, wechselt die Szylla der Tragik mit der Charybdis
des Humors so unheimlich schnell ab, daß Schreiber dieser
Zeilen nicht der Einzige sein dürfte, der nach solchen Ge-
nüssen mit einem Gefühl gänzlicher Gleichgültigkeit nach
Hausc geht, wie es sonst derVorbote gastrischer Revolutionen
zu sein pflegt. Man stelle sich doch nicht das Publikum
noch schlechter vor, als es schon ist, man mache ein Pro-
gramm mit einheitlicher Grundstimmung. Die eigene
Vielseitigkeit kann man ja ein andermal zeigen: der Mensch
sollte auch hier immer mehr haben, als er gibt.

Lduard Plahhosf.

Malt:

Augend. — Nundscbau. — Dichtung. — Schöne Literatur. (Gedichte. Von Otto Ernst. Der
zwiefache Eros. Von Wilhelm Weigand. Die Jungen. Von Hans von Kahlenberg.) Schristen über
Literatür. (Karl Jmmermann. Eine Gedächtnisschrist.) — Musik: Musikliteratur. (Zur 5llärung der Wagner-
Kontroverse. Von Christian von Ehrensels. Allegorische Dramen.) Wichtigere Musikaufführungen: Dresdner Be-
richt. Münchner Bericht. — Bildende Künste: Kunstliteratur. (Die Muther-Hetze. Von Richard Muther. Das
Leben Raffaels. Von Herman Grimm.) — Kunstblätter und Bilderwerke. (Die kgl. Gemäldegallerie zu Dresden.
Text von Hermann Lücke. Restaurieren.) — Sprechsaal: Über Naturgenuß. Über Nezitation.
 
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