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Niedersächsisches Landesamt für Denkmalpflege [Editor]; Institut für Denkmalpflege [Editor]
Arbeitshefte zur Denkmalpflege in Niedersachsen: Denkmalpflege im ländlichen Raum — Heft 1.1981

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Ottenjann, Helmut: Alte Bauernhäuser - eindrucksvolle Beispiele ländlicher Baukultur
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https://doi.org/10.11588/diglit.50202#0017
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Helmut Ottenjann
Alte Bauernhäuser — eindrucksvolle Beispiele
ländlicher Baukultur

Von der ostfriesisch-oldenburgischen Küste bis zum Wie-
hengebirge, östlich und westlich begrenzt durch Weser und
Ems, erstreckt sich eine Kulturlandschaft, die einstmals ge-
radezu übersät war mit Tausenden kleiner und großer, jahr-
hundertealter Bauernhäuser. Zu diesen oft monumentalen
Platzgebäuden von dreißig bis fünfzig Meter Länge gesellten
sich im Laufe der Zeit viele Wirtschaftsgebäude hinzu und
gruppierten sich zu landschaftsbestimmenden, von kleinen
Eichenwäldern umstandenen Hofanlagen.
Eine der großartigsten bäuerlich geprägten Kulturregionen
dieser Art ist das im ehemaligen Landkreis Bersenbrück ge-
legene „Artland“; diese parkartige Kulissenlandschaft mit
Hunderten heute noch bewirtschafteten Bauerngehöften in
holzreichem Fachwerk des 18. und 19. Jahrhunderts ist in
Nordwesteuropa als einmalig zu deklarieren, ihre Erhaltung
bedeutet aber auch eine denkmalpflegerische Herausforde-
rung.
Im Weser-Ems-Gebiet sind zwei wesensverschiedene Haus-
typen beheimatet: Im Norden das ostfriesische Gulfhaus
und südlich anschließend das niederdeutsche Hallenhaus.
Jeder dieser Bauernhaustypen spiegelt eine beeindruckende
Vielfalt innerhalb der Einheit wider und unterstreicht da-
durch, in welch hohem Maße das alte Bauernhaus die Land-
schaftskultur bereichert hat.
Ostfriesisches Gulfhaus: Im späten Mittelalter war der nörd-
liche Teil des Weser-Ems-Gebietes noch durch ein in Fach-
werk gebautes Wohnstallhaus gekennzeichnet. Aber seit
dem 16. und zunehmend im 17. Jahrhundert wurde hier in
den Marschen und sodann in der anschließenden Geest das
Landschaftsbild Ostfrieslands von einem völlig neuartigen
Bauernhaustyp geprägt, einem nur in Ziegelstein gekleide-
ten, fachwerklosen Platzgebäude, das Scheune und Stall
einerseits sowie den durch eine Brandmauer andererseits
getrennten Wohnteil vereinigte. Die große Neuerung im
16. Jahrhundert bestand nicht nur in der architektonischen
Neuschöpfung eines Bauernhauses, sondern in der umwäl-
zend neuartigen Methode der Erntespeicherung: Das Getrei-
de und Heu wurde nicht auf dem Dachbalken gelagert, son-
dern vom Erdboden bis in den Dachfirst; es wurde ein „erd-
lastiger“ Haustyp übernommen. Im Jahre 1936 wählte
K. Junge für alle friesischen Bauten mit einem kubischen
erdlastigen Erntestapelraum im Scheunenteilinneren, dem
Gulf, die wissenschaftliche Bezeichnung Gulfhäuser. Die
Hausforschung kann auf einen bestimmten Haustyp des
Hochmittelalters in Westeuropa verweisen, der für die „Er-
findung“ und Ausgestaltung des Gulfhauses das eigentliche
Vorbild gewesen sein dürfte, nämlich die mönchischen Pro-
fanbauten des 11. bis 13. Jahrhunderts in Nordfrankreich-
Brabant-Holland.
Veränderungen und Weiterentwicklungen dieses Haustyps
lassen sich bis ins 20. Jahrhundert hinein nachweisen; sie be-
treffen die Vergrößerung und Vervollkommnung des Wohn-

traktes, aber sie lassen sich ebenso an der Konstruktionswei-
se der Jochbalkenzimmerung im Gulfteil beobachten. Der
Reichtum der Marschbauern und der geringere Wohlstand
der friesischen Geestbauern spiegelt sich selbstverständlich
auch in der stark variierenden Größe des Hauses und in der
„luxuriösen“ oder bescheidenen Ausstattung im Hausinne-
ren wider.
Ostfriesland ist die einzige Landschaft in Nordwestdeutsch-
land, die in der frühen Neuzeit, im 16. Jahrhundert, eine
jahrhundertealte Bautradition fast urplötzlich „über Bord“
wirft und zu „moderner“ Wirtschafts- und Wohnweise über-
wechselt.
Niederdeutsches Hallenhaus: Das dominierende Haus auf
dem Lande in Westfalen und in Niedersachsen, also auch im
Weser-Ems-Gebiet, vom Mittelalter bis zum Ende des
19. Jahrhunderts ist das sog. niederdeutsche Hallenhaus; es
ist ein Gerüstbau mit Zwei-, Drei- oder Vierständerkon-
struktion und Fachwerkumkleidung, das im Innern unter ei-
nem Dach die Wohnung für den Menschen, den Stall für das
Hausvieh, auf dem Dachboden die Getreide- und Heulage-
rung sowie im Dielenteil die „Mehrzweckhalle“ aufnimmt.
Mittelpunkt dieses Wohn-Stall-Speicherhauses ist der ur-
sprünglich freiumschreitbare Herd im Flett ohne Schorn-
stein-Rauchabzug. Das „Phänomen“ dieses Bauernhauses
besteht im jahrhundertlangen, starren Festhalten am Rauch-
hausprinzip.
Die Erfindung des mittelalterlichen dreischiffigen nieder-
deutschen Hallenhauses ist nicht geradlinig auf das vor- und
frühgeschichtliche Wohnstallhaus in Zweipfostenbauweise
zurückzuführen. Die entscheidenden Bauimpulse erhielt es
durch die Berufshandwerker der Klöster, Herrensitze und
der Städte im niederländisch-niederrheinischen Gebiet im
Hochmittelalter. Damit verdankt auch dieser Bauernhaus-
typ — wie das ostfriesische Gulfhaus — sein Entstehen dem
oberschichtigen Bauen.
Die Weiterentwicklung der Frühform des hochmittelalterli-
chen niederdeutschen Hallenhauses zur spätmittelalterli-
chen-neuzeitlichen Hochform erfolgte im 16. Jahrhundert in
der Kulturregion des Oberwesergebietes. Die Neugestaltung
von Gefüge (Dachbalkenhaus mit Unterrähmgefüge),
Grundriß (T-förmiges Flettdielenhaus) und Giebel (statt
Vollwalm jetzt Steilgiebel, Knaggengiebel, Stichbalkengie-
bel etc.) in der frühen Neuzeit ermöglicht auch der besitz-
bäuerlichen Schicht Westfalens und Niedersachsens sowie
der des Weser-Ems-Gebietes ein monumentales Vielzweck-
haus für Mensch, Tier und Ernte, eine weiträumige Innenge-
staltung und eine repräsentative Außenfrontausformung.
Fast zur gleichen Zeit also, als Ostfriesland einen völlig
neuen Bauernhaustyp übernimmt, wird das niederdeutsche
Hallenhaus grundlegend neu konzipiert. Beide Haustypen
sind aber durch starke Gegensätzlichkeit gekennzeichnet:

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