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Rolf Schäfer

Das theologische Programm der Kanzel

Repräsentanten der christlichen Kirche, sondern zu-
gleich auf die zwölf Stämme Israels, in denen sich die
christliche Kirche wiedererkennt. Dass sie die Braut ist,
die den edlen Sohn gebiert, der über die ganze Welt
herrscht, scheint auf den ersten Blick auf Maria hinzu-
deuten, wie ja auch die mittelalterliche und die rö-
misch-katholische Ikonografie in der Strahlenkranz-
madonna dem Bild eine mariologische Ausdeutung
gibt. Für Luther indessen ist die mit zwölf Sternen
Gekrönte kein Individuum, sondern die Gemeinde,
die den Gottessohn hervorgebracht hat. Diese
Gemeinde besteht schon seit der Erschaffung des
Menschen und zieht sich im Verborgenen mit den
frommen Erzvätern, Königen und Propheten durch
die ganze alttestamentliche Heilsgeschichte hin.
Während nun in der dritten Strophe der Gottessohn
durch die Himmelfahrt zu Gott entrückt ist, bleibt die
Gemeinde allein zurück. Nach Apk 12, 14 ermöglicht
Gott ihr die Flucht, indem er ihr Adlerflügel verleiht,
sodass sie in die Wüste fliegen und dort Ruhe finden
kann vor ihrem Feind. Diese geheimnisvolle Rettung,
die sich wohl auf ein geschichtliches Ereignis im Leben
der Urgemeinde5 bezieht, fasst Luther für die Ge-
meinde seiner Gegenwart in dem Satz zusammen, mit
der das Lied schließt: Doch will sie Gott behüten und
der recht Vater sein.
Dieses Lied Luthers hat sich in den evangelischen
Gesangbüchern nicht sehr lange halten können. Das
erste Oldenburgische Gesangbuch von 1690 kennt es
schon nicht mehr. Vor dem Dreißigjährigen Krieg
scheint es aber in seinem Bildgehalt als Auslegung
von Apk 12 noch präsent gewesen zu sein, sodass
man in Rodenkirchen und Varel6 noch wusste, dass
die geflügelte Frau die Ecclesia bedeutete. Deshalb
gab man ihr auch die Kirche in die Hände, wobei nicht
so sehr an das steinerne Gebäude zu denken ist als
vielmehr an die in diesem Gebäude zum Gottesdienst
versammelten Christen. Die dort vereinte Gemeinde
sieht, wenn sie zu der Gestalt auf dem Schalldeckel
hinaufblickt, in deren Händen jeweils ihr eigenes
Kirchengebäude - in Rodenkirchen St. Matthäus, in
Varel die Schlosskirche - und darin sich selbst, wie sie
von Gott, der ihr rechter Vater sein will, an einem
sicheren Ort behütet wird. Das Gefühl der Gebor-
genheit, welches in dem Bild der Kirche ausgedrückt
wird, greift damit auf die in der Kirche anwesende
Gemeinde über.
Krone und Sterne. Die Identifizierung der versam-
melten Gemeinde mit der Gestalt der Ecclesia wurde
ehemals durch die Krone mit ihren zwölf Sternen ver-
stärkt. Diese Sterne fehlen heute. Doch haben sie
Spuren hinterlassen. Ein altes, freilich undatiertes Foto
der Vareler Ecclesia zeigt noch zwei Sterne, die über
die Zacken der Krone hinausragen7. In Rodenkirchen
sind an der Oberfläche des Kopfes innerhalb der Kro-
ne Löcher erkennbar, in denen vermutlich die Halte-

rung der aus Metall gefertigten Sterne eingelassen
war.
Mondsichel. Zur Ecclesia nach Apk 12, 1 gehört es,
dass auf dem Mon ihr Füße stöhn.
Auf dem Hintergrund der ikonografischen Tradition
und des Befundes in Varel, wo die Ecclesia auf einer
Mondsichel steht, ist deren Fehlen in Rodenkirchen
verwunderlich. Sah die Figur den gegenreformato-
rischen Strahlenkranzmadonnen zu ähnlich, sodass
man sie - vielleicht schon relativ früh oder von Anfang
an - durch Entfernung der Mondsichel gegen ein
solches Missverständnis schützen musste? Waren die
äußeren Partien der Mondsichel wurmstichig gewor-
den und abgefallen, sodass man sie absägte? Da der
restauratorische Befund keine Antwort gibt, muss die
Frage wohl offen bleiben.
Ob nun mit oder ohne Mondsichel - die Deutung der
Figur als Ecclesia gemäß Apk 12 ist in Rodenkirchen
gesichert.
Mutter Kirche. Die geflügelte und gekrönte Frauen-
figur auf dem Schalldeckel der Kanzel wird in ihrer
Gestaltung durch die Offenbarung des Johannes und
durch Luthers Lied von der Kirche dem Verständnis
nahegebracht. Eines ist aber noch nicht geklärt:
Warum in Rodenkirchen (und Varel) im Bildprogramm
der Kanzel gerade die Kirche ganz oben zu stehen
kommt.
Etwa ein Jahrhundert vor der Errichtung der Kanzel in
Rodenkirchen veröffentlichte Luther seine Katechis-
men. Das Enchiridion (Handbuch) oder Der Kleine
Katechismus (1529)8 im Frage- und Antwortstil diente
als kurz gefasster Gesamtüberblick über den christli-
chen Glauben. Er wurde ergänzt durch den Deutsch
Katechismus (gleichfalls 1529, später Großer Kate-
chismus genannt)9, der dem Kleinen Katechismus im
Aufbau folgt und für ihn die nötigen Hintergrund-
informationen bot. Beide Katechismen fanden Auf-
nahme in das Konkordienbuch von 1580'°, welche
künftig die für die lutherischen Kirchen maßgebliche
Bekenntnissammlung darstellte. Die Lehre von der Kir-
che findet sich bei der Erklärung des Dritten Artikels
des Apostolischen Glaubensbekenntnisses: Ich glaube
an den heiligen Geist, die heilige christliche Kirche ...,
was Luther im Großen Katechismus folgendermaßen
erläutert. Der heilige Geist bedient sich bei seinem
Wirken im Menschen der Kirche. Denn er hat eine
besondere Gemeinde in der Welt, welche ist die
Mutter, welche einen jeden Christen zeugt und trägt
durch das Wort Gottes, welches er [der heilige Geist]
offenbart und treibt, die Herzen erleuchtet und
anzündet, dass sie es fassen und annehmen, daran
hängen und dabei bleiben. Denn wo er's nicht predi-
gen lasset und im Herzen erweckt, dass man’s fasset,
da ist's verloren ..."
 
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