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Architektonische Rundschau: Skizzenblätter aus allen Gebieten der Baukunst — 30.1914

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Voepel, Otto: Theoretiker der Renaissance in Deutschland
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https://doi.org/10.11588/diglit.42063#0040
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Der allerwichtigste Theoretiker der deutschen
Renaissance ist nach Lübke-Haupt aber Hans Blum
von Lohr. Er ist „der allererste, der eine richtige
Säulenordnung genau nach vorgeschriebenen Zahlen-
verhältnissen, die er im einzelnen einschreibt, in
ganz großem Maßstab systematisch und zusammen-
hängend darstellt, da sein einziger Vorgänger, Serlio,
gerade diese Einzelheiten nur ganz bruchstückweise
und verzettelt gebracht hatte. Blum ist hier sogar
der Vorläufer der großen Theoretiker Vignola,
Cattaneo, Palladio, die man fälschlich als die ältesten
Vertreter der systematischen Behandlung der Säulen-
ordnungen an sich betrachtet.“ Sein Werk „Von
den fünff Sülen grundtlicher Bericht und deren
eigentliche Contrafeyung nach symmetrischer Usz-
teilung der Architektur“ erschien im Jahre 1550
in Zürich.
Über dieses Werk heißt es a. a. O.: „Jedenfalls ist
das Blumsche Säulensystem eine große Tat. Viel-
leicht die folgenreichste, die seit vierhundert Jahren
in der Lehre von der architektonischen Formenlehre
geleistet ist; in dieser Art völlig neu und sofort in
einer so vollendeten Form, daß diese noch heute
dem Unterricht in den Säulenordnungen ohne Be-
denken zugrunde gelegt werden könnte. Vignolas
Verdienst wird demgegenüber klein.“ Einige Jahre
später gab Blum eine weitere Folge heraus, die vor-
wiegend der Behandlung des Details gewidmet ist
und den Verfasser als „einen die Formen der Re-
naissancebaukunst völlig und souverän beherrschen-
den Künstler“ zeigt.
Es scheint, als ob mit diesem Werke das Be-
dürfnis nach einem erschöpfenden Lehrbuche der
Architektur auf lange Zeit hinaus befriedigt gewesen
sei. Die folgenden, gegen Ende
des 16. und im Verlaufe des
17. Jahrhunderts sich häufenden
Veröffentlichungen betreffen
durchweg Einzelgebiete. Unter
diesen erscheint zunächst die
Perspektive als begehrtes
Hilfsmittel des entwerfenden
Architekten. Ihr sind nach Dürers
Vorgang eine Reihe mehr oder
weniger bedeutsamer Lehrbücher
gewidmet. Daneben beginnen
Vorlagenwerke und Muster¬
blätter einen immer breiteren
Raum in der Fachliteratur ein¬
zunehmen; sie wenden sich, dem
Zuge der Zeit entsprechend, von
der eigentlichen Architektur im-
mer mehr dem Kunstgewerbe,
der reichen Ausschmückung
der Innenräume zu. Erwähnt
seien hier die Ornamente,
Goldschmiedearbeiten, Möbel
und Architekturen des schon ge-

nannten Peter Flettner, Virgil Solis’ umfangreiches
Ornamentwerk, Heinrich Vogtherrs „fremds und
wunderbares Kunstbüchlein“, die zahlreichen „Mo-
dellbücher“ für das gesamte Kunstgewerbe, die die
neuen Zierformen erst eigentlich populär machten.
Gegen Ende des 16. Jahrhunderts, in dem Maße,
als die innere Ausstattung der Gebäude auf größeren
Reichtum hindrängte, entstand lebhafte Nachfrage
nach Vorlagen für Tischlerarbeiten, Täfelungen,
Decken, Türen, Treppen, Möbel aller Art. Hier
seien vor vielen anderen erwähnt: die Vorlagen-
sammlung von Georgen Haasen (Wien, 1583), Veit
Eck und Jakob Guckeysen (Straßburg, 1595),
Gabriel Krammer aus Zürich, der 1599 die fünf
Säulenordnungen besonders für die Ausführung in
Holz herausgab. Mit der „Architektura“ Kastmanns
hielt im Jahre 1612 bereits das Barock seinen
siegreichen Einzug in die Schreinerwerkstatt.
Unter den Meistern dieser späten Zeit verdient
Wendel Dietterlein, der Erbauer des Stuttgarter
Lusthauses, eine besondere Erwähnung. Im Jahre
1591 gab er in Stuttgart eine Folge von 40 eigen-
händig radierten Blättern über die Säulenordnungen
heraus, in der er die klassischen Formen mit der
souveränen Freiheit üppig quellender Phantasie be-
handelt; freilich waren seine Erfindungen nicht
bestimmt, plastisch ausgeführt zu werden — diese
Vorstellung hat das Urteil über ihren Wert häufig
getrübt —, sondern Dietterlein war in erster Linie
Fassadenmaler, und seine überreich erscheinenden
Dekorationen waren darauf berechnet, auf glatte
Flächen gemalt zu werden. Sein Werk erfreute sich
solchen Beifalls, daß es schon 1598 in vermehrter
Auflage auf 209 Blättern erschien; diese „enthält
nun allerdings, was irgend die
üppigste Phantasie ersinnen
mochte. Keine noch so aus-
schweifende Form, die sich hier
nicht bereits verwendet fände“.
So führt die Reihe der Theo-
retiker der deutschen Renais-
sance von abstrakter, spekula-
tiver Betrachtung der Baukunst
immer mehr zu praktischer, frei
schöpferischer Betätigung. Und
in dem Maße, wie die Phantasie
allmählich zu ungehemmter Ent-
ladung befähigt wird, verliert sich
der Hang zur ästhetisierenden
Meditation, um erst in der Zeit
des Klassizismus wieder das be-
wußte Streben nach möglichster
Annäherung an die Antike zu
unterstützen. Einer jener Wech-
selvorgänge in der Geschichte
des menschlichen Geistes, deren
Betrachtung nicht ohne Reiz
ist. Voepel.


Bildhauer Jakob Brüllmann, Stuttgart
Brunnenfigur in Langenthal

Architektonische Rundschau 1914
Seite 28
 
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