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Einleitung.

Der sozialpolitische Inhalt der französischen Februarrevolution
ist, wissenschaftlich gesprochen, noch terra incognita. Diese That-
sache ist um so auffallender, als kein Zweifel darüber bestehen kann,
dass fast alle die Fragen, welche heute bei uns in Deutschland im
Mittelpunkte des öffentlichen Interesses stehen und den Kern der
sozialen Reformbestrebungen der Gegenwart bilden, damals schon
aufgeworfen, ja zum nicht geringen Theil praktisch zu lösen versucht
worden sind. Wie die Ouvertüre der Oper eine Art Zusammen-
fassung und Vorwegnahme der musikalischen Motive des Stückes
selbst bildet, so hat, von der Zinne der Geschichte aus betrachtet,
die Februarrevolution in Frankreich den gesammten Inhalt der sozial-
politischen Kämpfe Europas in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts
zusammengefasst und vorweggenommen. In diesem Hexenkessel von
Paris brodelten alle die Kräfte und Säfte, aus denen der schulgerechte
Sozialpolitiker , der moderne Doctrinär, der rabiate Sozialdemokrat,
der ordnungsliebende Staatssozialist und der ratlose Politiker von
heute ihre Tränke und Mixturen bereiten, mit denen sie die „grosse
Krankheit" heilen wollen. In der gesammten sozialpolitischen Gegen-
wart ist nicht ein einziger Gedanke nachweisbar, der nicht schon da-
mals, um mit Lassalle zu reden, „den Puls des französischen Volkes
bewegt und den Gegenstand seiner Verwirklichungsarbeit gebildet
hätte". Der Unterschied zwischen der damaligen sozialen Bewegung
in Frankreich und der heutigen in Europa ist der, dass dort der
geistige Inhalt der Bewegung freier und tiefer, die thatsächliche
Entwicklung der Gesellschaft aber zurückgebliebener und ungeklärter
war, während hier die thatsächliche Entwicklung fortgeschrittener, ja
fast zu einem Abschluss gelangt ist, indess das geistige Verständniss

Mülberger, Kapital und Zins. 1
 
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