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Das Buch für Alle.

Helt 3.

diese Ähnlichkeit mit ihrem „Umgänge" seinen Grund
darin haben könnte, daß ich sie stets mit demselben in
Zusammenhang brachte — ebenso, mie man sich einen
ganzen Soldaten vorstellt, menn inan nur eine Bajonnet-
spitze über einen Zaun hervorragen sieht. Als ich sie
dann aber Sonntags schön angezogen in die Kirche gehen
sah und eben auch diesen Unterschied deutlich bemerkte,
glaubte ich doch nicht zu irren, wenn ich den physio-
gnomischen Schluß zöge der oben des Näheren berührt
worden ist,
Das vortrefflichste Objekt sür meine Beobachtungen
aber war mir später ein kleiner Schweinehirt, der nicht
nur den trippelnden, halb springenden Gang seiner
Schutzbefohlenen angenommen hatte, sondern auch ge-
wisse grunzende Töne von sich gab, wenn man mit ihm
sprach.
Doch begeben wir uns zu den höheren Berufsarten.
Es gibt Beschäftigungen und Künste, die schon nach

Lande plötzlich nach der Stadt versetzt wird und dort
in Dienst "tritt. Schon nach kürzer Zeit nehmen die
groben Züge feinere Umrisse an; die, namentlich um
Lippe und "Wange liegende bäuerliche Feistheit schwindet,
das Dickwulstige um" die Augenbrauen verliert sich all-
mälig, und aus der plumpen Bauerndirne entwickelt
sich nach und nach nicht selten eine ganz niedliche Er-
scheinung.
Es kommt hierbei allerdings die Umgebung mit
in's Spiel. Ganz unwillkürlich nehmen die Menschen
bei stetem Beisammensein Mienen und Geberden van
einander an, das erklärt auch schon das Emanderähnlich-
werden von Eheleuten. Leibniz hat sogar die inter-
essante Beobachtung gemacht, daß die Physiognomie
eines, ganzen Volkes nicht ohne eine gewisse Beziehung
zur Thierwelt des Landes ist: daß die Lappen Nen-
thieren, die Neger Assen, die Malayen Tigern, die
Araber Knmeelen, die Hindu Elephanten, die peruanischen

Indianer Lamas ähneln u. s. w. — was gleichfalls nur
in der mehr oder weniger engeren Berührung mit diesen
Thieren seinen Grund haben kann.
Ich will hier nicht nut einer eigenen Wahrnehmung
zurückhalten, die ich bereits in niemer Jugend gemacht
habe, selbst auf die Gefahr hin, daß dieselbe ein wenig
seltsam erscheinen sollte. Auf dem Lande ausgewachsen,
ivar ich mit meinen physiognomischen Studien, die ich
schon frühzeitig fast instinktmäßig getrieben habe, meist
nur auf die Gesichter der Bauern angewiesen. Da war
es mir denn aufgefallen, daß die Pferdeknechte eine
ganz andere Physiognomie und ein ganz anderes Be-
nehmen hatten, als die Ochsenknechte. Jene hatten einen
flotten Gang, hielten sich aufrecht und zeigten in ihrem
Gesicht etwas Munteres und Lebendiges, während die
Ochsenknechte sich schwerfällig bewegten, beim Gehen
mit dem Kopfe tauchten und oft sogar einen stieren
Ausdruck im Gesichte zeigten. Ich glaubte zuerst, daß

Hochzeitsgesellschaft in Lagos. Nach einer photographischen Originalausnahme. (S. 78)


kurzer Zeit eine Veränderung der Physiognomie hervor-
bringen können. Uhrmacher, Juweliere, Holzschneider,
Kupferstecher, und neuerdings die Fleischbeschauer, über-
haupt Menschen, welche mit Anstrengung und Aufmerksam-
keit kleine und undeutliche Dinge klar zu sehen genöthigt
sind, bilden vorzugsweise und über Gebühr diejenigen
Gesichtsmuskeln aus, welche das Sehen unterstützen
So kann man namentlich bei Uhrmachern und Juwe-
lieren, die viel mit der Lupe arbeiten, eine einseitig
veränderte Ausbildung der betreffenden Muskeln wahr-
nehmen, wohingegen Musiker, welche Blaseinstrumente
spielen, ihre Mund- und Backenmuskeln nicht selten auf
Kosten ihrer Gesichtsschönheit ausbilden. Ich habe einen
alten Baßposaunenbläser gekannt, bei welchem die
Muskeln um Mund und Backen durch die jahrelange
Anstrengung des Blasens derart aufgetrieben waren,
daß ihm, wenn er nicht blies, die Backen wie zwei
halbgefüllte Säcke an den Seiten des Gesichts herunter-
hingen.
Daß das Spielen von Blaseinstrumenten das Ge-
sicht nicht zum Vortheil beeinflußt, hat übrigens schon
die griechische Göttin Pallas Athene erfahren, denn es

wird berichtet, daß sie, als sie einst beim Spielen der
Flöte zufällig ihr Spiegelbild mit den geschwollenen
Backen im Wasser sah, das liebliche Instrument empört
von sich warf — ein Vorgang, dessen der altrömische
Dichter Ovid mit folgenden Worten gedenkt:
„Weg von mir, Flöte, du giltst mir so viel nimmer," so sagte
Pallas, als ihr Gesicht sie in dein Flusse gesehü.
Nicht immer aber dürften sich die Veränderungen,
die eine Berufsthütigkeit im Gesicht hervorbringen kann,
so leicht auf ihre Entstehung zurückführen lassen; und
wenn wir noch von den Merkmalen nbsehen, die eilte
Thätigkeit in freier Luft, im geschlossenen Raum, in
den glühenden Werkstätten der Feuerarbeiter, zur See,
oder im tiefen, licht- und luftleeren Schacht der Erde
in verschiedener Weise im Aeußeren der Menschen her-
vorzubringen vermögen, dann dürften wir gar ost in
Verlegenheit kommen, für den eigentlichen Berufstypus
eine Erklärung zu finden. Und doch ist dieser Typus
vorhanden. Wir finden denselben hauptsächlich aus-
gesprochen in den Gesichtern von Geistlichen, Schul-
lehrern, Schauspielern, Gerichts- und Polizeibcamten,

Offizieren, Gastwirthen, Handlungsreisenden, Kellnern
und Lohndienern.
Gerade die Letzten möchten uns als großes physio-
gnomisches Rüthsel gelten Man sieht Lohndiener mit
langen Gesichtern und solche mit breiten und runden,
mit und ohne Bart, blond und braun, auch von den
verschiedensten Lebensaltern — und dennoch wird man
sie allesammt, auch unter jeder Verkleidung, sofort als
Lohndiener erkennen.
Leichter werden schon die Veränderungen nach-
zuweisen sein, die von der eigentlich mimischen Thätig-
keit eines Berufes herrühren, und sich dann allerdings
auch mehr auf die ganze Erscheinung des Menschen, als
auf dessen Gesicht allein erstrecken. So wird die be-
ständige Gewohnheit, hinter dem Ladentisch zu stehen,
zu wiegen, Düten zu drehen und inzwischen einem
Dienstmädchen, das einen Hering holt, ein Kompliment
zu sagen, den Gesten des Krämers nach und nach einen
so sichtbaren Ausdruck verleihen, daß man demselben
auch in seinen: Festtagsrock auf der Straße den Beruf
anmerken wird. Wer denkt hierbei nicht auch an unsere
modernen Figaros, die in jeder ihrer Bewegungen ihren
 
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