iss
darin, an die aufgegebene Chiffre zu schreiben und
denjenigen anzuhnlten, der auf der Post darnach
fragt." :
„O, so dumnt ist der Mann wohl nicht, daß er M--
nehmen kEnte, wir würden ihm für sein Geheimniß,
das mittlerweile die ganze Stadt erfahren hat, noch
zwanzigtausend Lire bezahlen. Ohnehin versteht es sich
ganz von selbst, daß ein solcher Erpresser, wenn er sich
auf der Post nach der Chiffre erkundigt, festgenommen
wird. Aber nur können nicht darauf rechnen, daß sich
Jemand meldet. Wir müssen auf andere Weise zu er-
fahren suchen, wer Ihnen den Streich gespielt hat.
Rathen wir also unverdrossen weiter. Nennen Sie mir
einige Namen, besonders von Leuten, an die Sie Geld
bezahlt haben, Kellner, Portiers, Diener, oder Leute,
an die Sie beim Spiel Geld verloren haben."
„Der Brief sieht nicht aus, als ob ihn ein Kellner-
oder Diener geschrieben hätte."
„Allerdings nicht. Fangen Sie also mit Personen
an, von denen Sie am ersten erwarten können, daß
sie einen solchen Brief schreiben."
„Ich weiß keine."
„Fangen Sie immerhin an. Nennen Sie Ihre
Spielgenossen."
„Also Graf Tozzo, Herr di Cinirola, Matteo Pe-
ruzzi, Don-"
„Immer weiter, Herr Herzog. Was haben Sie?"
Attilio stand rasch auf, starrte einen Augenblick vor
sich nieder, als wolle er sich auf etwas besinnen, dann
fuhr er fort: „Wo ist der Brief, Herr Staatsanwalt?
Lassen Sie mich ihn sehen."
„Hier."
Lange betrachtete Attilio das Schreiben, das ihm
Ghilazzi gab, dann sagte er plötzlich rasch und bestimmt:
„Ja, der ist's. DaS sind seine Haken an den d und
das sind seine Schwänze an den g. Ich hab's, Herr-
Staatsanwalt."
„Wer ist's?j'
„Don Gianino Ceruzzi."
„Sie sind dessen sicher?"
„Vollkommen."
„Haben Sie etwas Schriftliches von ihm?"
„Nein. Aber der alte Castaldi hat mir einen Schein
gezeigt, den Don Gianino diesem über meine Spiel-
schuld ausgestellt hat. Daher kenne ich die Handschrift."
„Wo wohnt der Herr?"
„Das weiß ich nicht. Aber ich kann es erfahren."
„Ich auch! Bemühen Sie sich also nicht weiter.
Ich danke Ihnen, Herr Herzog, für Ihre Auskunft.
Ich hoffe, daß wir damit dem Wespennest näher und
näher kommen."
Das hoffte Attilio auch, um so mehr, als er glaubte,
daß seine eigene Handlungsweise mehr und besser in
das rechte Licht käme, wenn alle diese Vorgänge, die
jetzt noch dunkel und verworren lagen, aufgedeckt wür-
den. Es war ihm unerträglich, in Mißverständnisse
gerathen zu sein, die, wie es den Anschein hatte, zu
einem Zerwürfniß seiner Familie mit einem Theil der
guten Gesellschaft von Neapel führen konnten, und nichts
war natürlicher, als daß er bemüht war, die Miß-
verständnisse zu beseitigen. Als daher der Staatsanwalt
Ghilazzi den Palazzo bei Tibaldi wieder verlassen hatte,
machte sich auch Herzog Attilio bereit, einen Besuch bei
dem Konsul de Vries zu machen.
Die Privatwohnung des Konsuls befand sich draußen
vor Neapel auf dem immergrünen, meerumspülten Po-
silippo. Aus einem der riesigen Tufffelsen, die hier steil
und senkrecht aus dem Meer aufsteigen, vielfach zer-
klüftet und mit mehr oder weniger schaurigen Grotten
versehen, in denen die Wellen ein ewig flüsterndes
Geräusch verursachen, stand das Haus, das Herr de Vries
mit seiner Familie bewohnte. Malerisch auf einen
kleinen Felsvorsprung hinausgebaut, mit wunderbarer
Aussicht über das lachende tyrrhenische Meer mit seinen
Inselgruppen, auf den Vesuv und die üppige Land-
schaft von Pompeji, Castellamare und Sorrent, bot es
all' den bestrickenden Zauber, der dem Nordländer diese
Küsten so paradiesisch erscheinen läßt.
Als der Wagen des Herzogs Attilio vor dem Hause
hielt, und er zwischen den rauschenden Palmen und
Pinien hindurch nach den Balkonen des Hauses empor-
schaute, gewahrte er Fräulein Elvira, die auf dem großen
Mittelbalkon in einen: Sessel lag, und träumerisch die
Landschaft betrachtete.
Er hielt das für ein gutes Zeichen, wenngleich
Elvira ihn nicht zu bemerken schien, trat rasch in den
Park, der das Haus umgab, ein und ließ sich bei
Fräulein de Vries melden.
Der Diener ließ ihn ziemlich lange warten auf die
Antwort, und als er endlich zurückkehrte, sagte er: „Das
gnädige Fräulein befindet sich nicht ganz wohl und be-
dauert, den Herrn Herzog nicht empfangen zu können."
Attilio wurde verwirrt und wußte im Moment
nicht, was er sagen sollte. Er hatte sie soeben auf dem
Balkon gesehen, und nun sollte sie plötzlich so unwohl
sein, daß sie ihn nicht empfangen konnte? Ließ sie ihn
abweisen? Ihn, den Herzog dei Tibaldi? Das Herz
klopfte ihn: vor Erregung lauter und stärker.
Das Buch für All e.
„Kann ich vielleicht dei: Herrn Konsul sprechen?"
fragte er endlich.
„Ich werde Eure Gnaden melden," entgegnete der
Diener höflich und ging fort.
Attilio zog verlegen an seinen Handschuhe!: und sah
stumpf in dei: üppig grünenden, schattigen Garten hin-
aus, der, wie überhaupt die ganze Wohnung des Herrn
de Vries, das Gepräge peinlichster Sorgfalt und Pflege
trug.. Die Kieswege waren sauber geharkt, die Blumen
und Sträucher zierlich geordnet und verschnitten, die
Orangenbäume voller gelbleuchtender Früchte; nirgends
Unrath oder Unordnung, wie das so häufig in den
neapolitanischen Häusern vorkommt. Es war den: jungen
Neapolitaner immer so traulich, so wohlig geworden,
wenn er das Haus des Herrn de Vries besuchte, die
Sauberkeit und Ordnung hatte ihn so angeheimelt,
gerade weil inan sie in Neapel so selten sieht. Und
nun sollte ihn: plötzlich das Haus verschlossen sein?
Wenn ihn Herr de Vries nun auch nicht empfing, sah
das nicht aus, als ob man ihn nicht mehr für würdig
hielt, in diesen: Hause zu verkehren?
Wieder blieb der Diener sehr lange aus. Ueber-
legte man erst da drinnen, ob inan ihn empfangen
könne oder nicht? Endlich kehrte er zurück.
„Herr Konsill de Vries läßt bitten," sagte er mit
einer tiefen Verbeugung.
Attilio holte erleichtert Athen: und trat ein. Er-
fand Herrn de Vries in seinem Arbeitszimmer. Etwas
steif lud er den Herzog ein, Platz zu nehmen.
„Was führt Sie zu mir, Herr Herzog?" fragte er
höflich, fast etwas zu höflich und zurückhaltend, als
wolle er damit eine gewisse gesellschaftliche Pflicht, wegen
der er ihn empfing, betonen.
„Darf ich offen sein, Herr Konsul?"
„Ich bitte darum."
„Nun denn, ich bin hier, Herr Konsul, weil ich
nicht wünsche, daß Sie das, was in unserem Hause in
letzterer Zeit passirt ist, in übertriebener oder unwahrer
Form hören. Es ist mir peinlich, unerträglich gewesen,
zu wissen, daß Sie vielleicht von dei: tollen Erfindungen
der Zeitungen und dem müßigen Geschwätz des Publi-
kums beeinflußt werden könnte!:. Ich bin hier, um
Ihnen Rede und Antwort zu stehen über Alles, was
Sie etwa zu wissen wünschen."
„O, Herr Herzog, ich bin Ihnen außerordentlich
verbunden für die Aufmerksamkeit, aber ich bedaure,
davon keinen Gebrauch machen zu können. Weder ich
noch Jemand aus meiner Familie hat die Gewohnheit,
sich um Sachen zu kümmern, die uns nichts angehen."
Es entstand eine kleine verlegene Pause.
„Die Sie nichts angehen!" wiederholte Attilio dann.
„Und doch wünschte ich, Sie würden mich ruhig an-
hören, vielleicht gehen Sie diese Angelegenheiten dennoch
etwas an."
„Zweifeln Sie nicht daran, daß ich persönlich Ihnen
mit größter Theilnahme gegenüber stehe, Herr Herzog,
und daß ich mich eingehend über die Angelegenheit
informirt habe. Sie dürften mir schwerlich etivas
Neues mittheilen können, was ich nicht schon wüßte,
und ich möchte Ihnen nur die ohne Zweifel für Sie
höchst peinliche Wiederholung widerwärtiger Begeben-
heiten ersparen."
„Widerwärtig ist noch nicht das rechte Wort, Herr
Konful, um diese Begebenheiten richtig zu charakterisiren.
Sie sind für mich vielmehr geradezu vernichtend, wem:
es mir nicht gelingt, die Mißverständnisse zu beseitigen,
die ohne Zweifel auch hier entstanden sind."
„O, Herr Herzog, Sie dürfen versichert sein —"
„Nein, Herr Konsul, ich bin nicht sicher, daß hier
keine Mißverständnisse obwalten, im Gegentheil, und da
Sie mir doch einmal gestattet Habei:, ganz offen zu sein,
so möchte ich Ihnen das sogleich beweise!:."
„Bitte, Herr Herzog."
„Als ich in Ihr Haus kau:, Herr Konsul, ließ ich
mich zunächst bei Fräulein Elvira melden, ii: der Hoff-
nung, sie zu sehen. Ich wurde abgewiesen. Kani: mich
Fräulein Elvira nicht empfangen, Herr Konsul, oder
will sie nicht?"
Ruhig legte sich Herr de Vries bei dieser Frage in
seinen Sessel zurück. Sie setzte ihn nicht in Verlegen-
heit, wenngleich er sie nicht ganz passend fand. Aber
er hielt sie offenbar dem junge,:, leicht erregten Mann
zu Gute.
„Dars ich nun auch offen sein, Herr Herzog?" fragte
er nut einen: feinen Lächeln.
„Sie würden mich dadurch verbinden."
„Wer weiß! Hören Sie also zunächst, daß Elvira
Ihren Besuch bis auf Weiteres nicht annehmen darf."
„Und wer hat es ihr verboten?"
„Ich!"
„Herr Konsul —"
„Wollen Sie mich ruhig anhören, Herr Herzog?"
„So sprechen Sie!"
„Zu Ihrem Trost kann ich Ihnen sagen, daß es
mir wahrhaftig nicht leicht geworden ist, von Elvira
das Verfprechen zu erhalten, Sie bis auf Weiteres uicht
mehr zu empfangen. Es hat Thränen und Seufzer
genug gekostet, und nur die ernste Erwägung ihres
, u_ M 7.
Wohls, ihrer Zukunft hat sie endlich überzeugt, daß es
für beide Theile jetzt so besser ist. Ich glaube, Niemand
auf der ganzen Welt wünscht sehnlicher und aufrichtiger,
daß Sie aus diesem Handel rein und makellos hervor-
gehen, als Elvira, aber missen kann sie es noch nicht.
Und dann habe ich gesunden, Herr Herzog, daß eine
kleine Trennung auch für Sie des Nützlichei: viel in
sich trägt, weil Sie dadurch Gelegenheit erhalten, sich
felbst klar zu werden, sich bewußt zu werden, was Sie
zu thun haben und was nicht."
„Herr Konsul —"
„Nein, sagen Sie noch nichts, Herr Herzog, sondern
Hörei: Sie mich ganz an. Ich bin ein alter Mann,
der das Leben genügend kennt, um Ihnen: das sagen
zu können, was ich Ihnen gesagt habe. Sie wissen ja
auch, wie hoch ich Sie und Ihre Familie schätze, und
wenn ich trotzdem die kleine Sperre über Sie verhänge,
so will ich Ihnen dadurch keineswegs zu nahe treten,
fondern Ihnen nur Gelegenheit geben, Ihre Angelegen-
heiten mit Ruhe und ungestörter Sorgfalt zu ordnen.
Ist das geschehen, so werden Sie nirgends willkommener-
sein, als hier. Sind Sie mir nun noch böse?"
„Nein, Herr Konsul. Ein Vater könnte nicht besser
mit mir verfahren."
„Und Sie wollen meinen Rath befolgen?"
„Ich will nicht ruhen, bis Alles so geordnet ist, wie
Sie es wünschen."
„Nun denn, viel Glück und Erfolg, Herr Herzog!"
Dem jungen Mann war es, als ob ihn: Jemand
Bitterwasser mit Wein gereicht habe. So bedenklich,
so vorsichtig und kühl überlegt die Mittheilungen des
Konsuls ihn: erschienen, so glücklich machte es ihn, daß
es Thränen und Seufzer gekostet hatte, um Elvira zu
dem Versprechen zu bringen, ihn nicht zu sehen. Sie
liebte ihn also! Nichts konnte Attilio mehr in Auf-
regung versetzen, nichts ihn eifriger, feuriger, stürmischer
in der Verfolgung der Missethäter machen, die jetzt
einzig und allein das Hinderniß seines Glückes zu sein
schienen.
Als er aus dem Hause des Konsuls trat, fiel eine
dunkelrothe Rose von: Balkon herab, gerade vor ihn:
nieder. Hastig hob er sie auf und blickte ii: die Höhe
nach dem Balkon. Aber er sah dort nichts mehr, als
einen leeren Sessel.
Er küßte die Rose mehrere Male mit Inbrunst,
dann eilte er mit raschen Schritten durch den herrlichen
Park nach seinem Wagen und kehrte in scharfen: Trabe
nach Neapel zurück.
Die Verhaftung Don Gianino Ceruzzi's, die der
Staatsanwalt Ghilazzi in's Werk gesetzt hatte, ver-
ursachte in gewissen Kreisen der neapolitanischen Ge-
sellschaft eine unheimliche Aufregung. Don Gianino
wußte zu viel, und wenn er auch vorläufig nur wegen
Erpressung verhaftet worden war, so glaubte inan doch,
daß sich die Untersuchung auch auf andere dunkle Ope-
rationen, von denen er etwa wissen könnte, erstrecken
würde. Wenn Don Gianino dabei in's Plaudern kam,
so konnte das Manchem an die Kehle gehen.
Namentlich der alte Castaldi war von der Nachricht
über das Unglück, das seinen theuren Freund betroffen
hatte, wie niedergedonnert. Die Verhaftung seines
Sohnes hatte er schon schwer empfunden, diejenige Don
Gianino's traf ihn aber selbst wie eine finstere Be-
drohung, wie ein Unheil. Scheu und ängstlich lief er
tagelang durch die Straßen und wagte sich weder in
sein Bureau, noch in seine Wohnung. Ueberall glaubte
er Geheimpolizisten um sich zu sehen, und ost war es
ihn: im dicksten Straßengewühl, als ob ein Arm sich
aus der Menge herausrecke, der ihn beim Kragen
nehmen wolle. —
Es war wieder in den Abendstunden, als Castaldi
am Hafen Herumstrich, wo er dei: alten Carluccis zuerst
getroffen hatte, aber er fand ihn nicht mehr an dem
gewohnten Platz. Hatte er schon Wind bekommen und
war ausgerückt? Carluccio war eben auch eine von
jenen dunklen Existenzen, die bald hier, bald dort auf-
tauchen, immer dort find, wo man sie nicht vcrmuthet,
und niemals da, wo man sie sucht; einer von jenen
Besitzlosen, die in Neapel der Schrecken aller Behörden
sind. Wie schlimm war dagegen Castaldi daran! Er
war Eigenthümer. Wenn er sich auch versteckte, wenn
er floh — konnte er seine Weinberge in Positano mit-
nehmen? Und das war es auch, was ihn um alle Be-
sinnung zu bringen schien. Er fühlte sich unsicher.
Wenn seine verschiedenen Beziehungen an's Tageslicht
kamen, war er ein geschlagener, verlorener Mann. Es
mußte also etwas geschehen, etwas Entscheidendes, Durch-
schlagendes, das "ihn aus allen diesen Verlegenheiten
und Bedrohungen herausriß.
Er wußte auch schon, was geschehen müsse. Er war
sich darüber schon seit Wochen klar gewesen, aber die
eigene Noth, in die er nun gerathen war, drängte ihn
kategorisch zur Ausführung. Jetzt durfte er nicht inehr
warten und zaudern und die gute Gelegenheit abpassen.
Er mußte handeln oder er war verloren.
Er ging langsam an: Hafen hin, denselben Weg,
dei: er seiner Zeit mit Carluccio zurückgelegt hatte, als
darin, an die aufgegebene Chiffre zu schreiben und
denjenigen anzuhnlten, der auf der Post darnach
fragt." :
„O, so dumnt ist der Mann wohl nicht, daß er M--
nehmen kEnte, wir würden ihm für sein Geheimniß,
das mittlerweile die ganze Stadt erfahren hat, noch
zwanzigtausend Lire bezahlen. Ohnehin versteht es sich
ganz von selbst, daß ein solcher Erpresser, wenn er sich
auf der Post nach der Chiffre erkundigt, festgenommen
wird. Aber nur können nicht darauf rechnen, daß sich
Jemand meldet. Wir müssen auf andere Weise zu er-
fahren suchen, wer Ihnen den Streich gespielt hat.
Rathen wir also unverdrossen weiter. Nennen Sie mir
einige Namen, besonders von Leuten, an die Sie Geld
bezahlt haben, Kellner, Portiers, Diener, oder Leute,
an die Sie beim Spiel Geld verloren haben."
„Der Brief sieht nicht aus, als ob ihn ein Kellner-
oder Diener geschrieben hätte."
„Allerdings nicht. Fangen Sie also mit Personen
an, von denen Sie am ersten erwarten können, daß
sie einen solchen Brief schreiben."
„Ich weiß keine."
„Fangen Sie immerhin an. Nennen Sie Ihre
Spielgenossen."
„Also Graf Tozzo, Herr di Cinirola, Matteo Pe-
ruzzi, Don-"
„Immer weiter, Herr Herzog. Was haben Sie?"
Attilio stand rasch auf, starrte einen Augenblick vor
sich nieder, als wolle er sich auf etwas besinnen, dann
fuhr er fort: „Wo ist der Brief, Herr Staatsanwalt?
Lassen Sie mich ihn sehen."
„Hier."
Lange betrachtete Attilio das Schreiben, das ihm
Ghilazzi gab, dann sagte er plötzlich rasch und bestimmt:
„Ja, der ist's. DaS sind seine Haken an den d und
das sind seine Schwänze an den g. Ich hab's, Herr-
Staatsanwalt."
„Wer ist's?j'
„Don Gianino Ceruzzi."
„Sie sind dessen sicher?"
„Vollkommen."
„Haben Sie etwas Schriftliches von ihm?"
„Nein. Aber der alte Castaldi hat mir einen Schein
gezeigt, den Don Gianino diesem über meine Spiel-
schuld ausgestellt hat. Daher kenne ich die Handschrift."
„Wo wohnt der Herr?"
„Das weiß ich nicht. Aber ich kann es erfahren."
„Ich auch! Bemühen Sie sich also nicht weiter.
Ich danke Ihnen, Herr Herzog, für Ihre Auskunft.
Ich hoffe, daß wir damit dem Wespennest näher und
näher kommen."
Das hoffte Attilio auch, um so mehr, als er glaubte,
daß seine eigene Handlungsweise mehr und besser in
das rechte Licht käme, wenn alle diese Vorgänge, die
jetzt noch dunkel und verworren lagen, aufgedeckt wür-
den. Es war ihm unerträglich, in Mißverständnisse
gerathen zu sein, die, wie es den Anschein hatte, zu
einem Zerwürfniß seiner Familie mit einem Theil der
guten Gesellschaft von Neapel führen konnten, und nichts
war natürlicher, als daß er bemüht war, die Miß-
verständnisse zu beseitigen. Als daher der Staatsanwalt
Ghilazzi den Palazzo bei Tibaldi wieder verlassen hatte,
machte sich auch Herzog Attilio bereit, einen Besuch bei
dem Konsul de Vries zu machen.
Die Privatwohnung des Konsuls befand sich draußen
vor Neapel auf dem immergrünen, meerumspülten Po-
silippo. Aus einem der riesigen Tufffelsen, die hier steil
und senkrecht aus dem Meer aufsteigen, vielfach zer-
klüftet und mit mehr oder weniger schaurigen Grotten
versehen, in denen die Wellen ein ewig flüsterndes
Geräusch verursachen, stand das Haus, das Herr de Vries
mit seiner Familie bewohnte. Malerisch auf einen
kleinen Felsvorsprung hinausgebaut, mit wunderbarer
Aussicht über das lachende tyrrhenische Meer mit seinen
Inselgruppen, auf den Vesuv und die üppige Land-
schaft von Pompeji, Castellamare und Sorrent, bot es
all' den bestrickenden Zauber, der dem Nordländer diese
Küsten so paradiesisch erscheinen läßt.
Als der Wagen des Herzogs Attilio vor dem Hause
hielt, und er zwischen den rauschenden Palmen und
Pinien hindurch nach den Balkonen des Hauses empor-
schaute, gewahrte er Fräulein Elvira, die auf dem großen
Mittelbalkon in einen: Sessel lag, und träumerisch die
Landschaft betrachtete.
Er hielt das für ein gutes Zeichen, wenngleich
Elvira ihn nicht zu bemerken schien, trat rasch in den
Park, der das Haus umgab, ein und ließ sich bei
Fräulein de Vries melden.
Der Diener ließ ihn ziemlich lange warten auf die
Antwort, und als er endlich zurückkehrte, sagte er: „Das
gnädige Fräulein befindet sich nicht ganz wohl und be-
dauert, den Herrn Herzog nicht empfangen zu können."
Attilio wurde verwirrt und wußte im Moment
nicht, was er sagen sollte. Er hatte sie soeben auf dem
Balkon gesehen, und nun sollte sie plötzlich so unwohl
sein, daß sie ihn nicht empfangen konnte? Ließ sie ihn
abweisen? Ihn, den Herzog dei Tibaldi? Das Herz
klopfte ihn: vor Erregung lauter und stärker.
Das Buch für All e.
„Kann ich vielleicht dei: Herrn Konsul sprechen?"
fragte er endlich.
„Ich werde Eure Gnaden melden," entgegnete der
Diener höflich und ging fort.
Attilio zog verlegen an seinen Handschuhe!: und sah
stumpf in dei: üppig grünenden, schattigen Garten hin-
aus, der, wie überhaupt die ganze Wohnung des Herrn
de Vries, das Gepräge peinlichster Sorgfalt und Pflege
trug.. Die Kieswege waren sauber geharkt, die Blumen
und Sträucher zierlich geordnet und verschnitten, die
Orangenbäume voller gelbleuchtender Früchte; nirgends
Unrath oder Unordnung, wie das so häufig in den
neapolitanischen Häusern vorkommt. Es war den: jungen
Neapolitaner immer so traulich, so wohlig geworden,
wenn er das Haus des Herrn de Vries besuchte, die
Sauberkeit und Ordnung hatte ihn so angeheimelt,
gerade weil inan sie in Neapel so selten sieht. Und
nun sollte ihn: plötzlich das Haus verschlossen sein?
Wenn ihn Herr de Vries nun auch nicht empfing, sah
das nicht aus, als ob man ihn nicht mehr für würdig
hielt, in diesen: Hause zu verkehren?
Wieder blieb der Diener sehr lange aus. Ueber-
legte man erst da drinnen, ob inan ihn empfangen
könne oder nicht? Endlich kehrte er zurück.
„Herr Konsill de Vries läßt bitten," sagte er mit
einer tiefen Verbeugung.
Attilio holte erleichtert Athen: und trat ein. Er-
fand Herrn de Vries in seinem Arbeitszimmer. Etwas
steif lud er den Herzog ein, Platz zu nehmen.
„Was führt Sie zu mir, Herr Herzog?" fragte er
höflich, fast etwas zu höflich und zurückhaltend, als
wolle er damit eine gewisse gesellschaftliche Pflicht, wegen
der er ihn empfing, betonen.
„Darf ich offen sein, Herr Konsul?"
„Ich bitte darum."
„Nun denn, ich bin hier, Herr Konsul, weil ich
nicht wünsche, daß Sie das, was in unserem Hause in
letzterer Zeit passirt ist, in übertriebener oder unwahrer
Form hören. Es ist mir peinlich, unerträglich gewesen,
zu wissen, daß Sie vielleicht von dei: tollen Erfindungen
der Zeitungen und dem müßigen Geschwätz des Publi-
kums beeinflußt werden könnte!:. Ich bin hier, um
Ihnen Rede und Antwort zu stehen über Alles, was
Sie etwa zu wissen wünschen."
„O, Herr Herzog, ich bin Ihnen außerordentlich
verbunden für die Aufmerksamkeit, aber ich bedaure,
davon keinen Gebrauch machen zu können. Weder ich
noch Jemand aus meiner Familie hat die Gewohnheit,
sich um Sachen zu kümmern, die uns nichts angehen."
Es entstand eine kleine verlegene Pause.
„Die Sie nichts angehen!" wiederholte Attilio dann.
„Und doch wünschte ich, Sie würden mich ruhig an-
hören, vielleicht gehen Sie diese Angelegenheiten dennoch
etwas an."
„Zweifeln Sie nicht daran, daß ich persönlich Ihnen
mit größter Theilnahme gegenüber stehe, Herr Herzog,
und daß ich mich eingehend über die Angelegenheit
informirt habe. Sie dürften mir schwerlich etivas
Neues mittheilen können, was ich nicht schon wüßte,
und ich möchte Ihnen nur die ohne Zweifel für Sie
höchst peinliche Wiederholung widerwärtiger Begeben-
heiten ersparen."
„Widerwärtig ist noch nicht das rechte Wort, Herr
Konful, um diese Begebenheiten richtig zu charakterisiren.
Sie sind für mich vielmehr geradezu vernichtend, wem:
es mir nicht gelingt, die Mißverständnisse zu beseitigen,
die ohne Zweifel auch hier entstanden sind."
„O, Herr Herzog, Sie dürfen versichert sein —"
„Nein, Herr Konsul, ich bin nicht sicher, daß hier
keine Mißverständnisse obwalten, im Gegentheil, und da
Sie mir doch einmal gestattet Habei:, ganz offen zu sein,
so möchte ich Ihnen das sogleich beweise!:."
„Bitte, Herr Herzog."
„Als ich in Ihr Haus kau:, Herr Konsul, ließ ich
mich zunächst bei Fräulein Elvira melden, ii: der Hoff-
nung, sie zu sehen. Ich wurde abgewiesen. Kani: mich
Fräulein Elvira nicht empfangen, Herr Konsul, oder
will sie nicht?"
Ruhig legte sich Herr de Vries bei dieser Frage in
seinen Sessel zurück. Sie setzte ihn nicht in Verlegen-
heit, wenngleich er sie nicht ganz passend fand. Aber
er hielt sie offenbar dem junge,:, leicht erregten Mann
zu Gute.
„Dars ich nun auch offen sein, Herr Herzog?" fragte
er nut einen: feinen Lächeln.
„Sie würden mich dadurch verbinden."
„Wer weiß! Hören Sie also zunächst, daß Elvira
Ihren Besuch bis auf Weiteres nicht annehmen darf."
„Und wer hat es ihr verboten?"
„Ich!"
„Herr Konsul —"
„Wollen Sie mich ruhig anhören, Herr Herzog?"
„So sprechen Sie!"
„Zu Ihrem Trost kann ich Ihnen sagen, daß es
mir wahrhaftig nicht leicht geworden ist, von Elvira
das Verfprechen zu erhalten, Sie bis auf Weiteres uicht
mehr zu empfangen. Es hat Thränen und Seufzer
genug gekostet, und nur die ernste Erwägung ihres
, u_ M 7.
Wohls, ihrer Zukunft hat sie endlich überzeugt, daß es
für beide Theile jetzt so besser ist. Ich glaube, Niemand
auf der ganzen Welt wünscht sehnlicher und aufrichtiger,
daß Sie aus diesem Handel rein und makellos hervor-
gehen, als Elvira, aber missen kann sie es noch nicht.
Und dann habe ich gesunden, Herr Herzog, daß eine
kleine Trennung auch für Sie des Nützlichei: viel in
sich trägt, weil Sie dadurch Gelegenheit erhalten, sich
felbst klar zu werden, sich bewußt zu werden, was Sie
zu thun haben und was nicht."
„Herr Konsul —"
„Nein, sagen Sie noch nichts, Herr Herzog, sondern
Hörei: Sie mich ganz an. Ich bin ein alter Mann,
der das Leben genügend kennt, um Ihnen: das sagen
zu können, was ich Ihnen gesagt habe. Sie wissen ja
auch, wie hoch ich Sie und Ihre Familie schätze, und
wenn ich trotzdem die kleine Sperre über Sie verhänge,
so will ich Ihnen dadurch keineswegs zu nahe treten,
fondern Ihnen nur Gelegenheit geben, Ihre Angelegen-
heiten mit Ruhe und ungestörter Sorgfalt zu ordnen.
Ist das geschehen, so werden Sie nirgends willkommener-
sein, als hier. Sind Sie mir nun noch böse?"
„Nein, Herr Konsul. Ein Vater könnte nicht besser
mit mir verfahren."
„Und Sie wollen meinen Rath befolgen?"
„Ich will nicht ruhen, bis Alles so geordnet ist, wie
Sie es wünschen."
„Nun denn, viel Glück und Erfolg, Herr Herzog!"
Dem jungen Mann war es, als ob ihn: Jemand
Bitterwasser mit Wein gereicht habe. So bedenklich,
so vorsichtig und kühl überlegt die Mittheilungen des
Konsuls ihn: erschienen, so glücklich machte es ihn, daß
es Thränen und Seufzer gekostet hatte, um Elvira zu
dem Versprechen zu bringen, ihn nicht zu sehen. Sie
liebte ihn also! Nichts konnte Attilio mehr in Auf-
regung versetzen, nichts ihn eifriger, feuriger, stürmischer
in der Verfolgung der Missethäter machen, die jetzt
einzig und allein das Hinderniß seines Glückes zu sein
schienen.
Als er aus dem Hause des Konsuls trat, fiel eine
dunkelrothe Rose von: Balkon herab, gerade vor ihn:
nieder. Hastig hob er sie auf und blickte ii: die Höhe
nach dem Balkon. Aber er sah dort nichts mehr, als
einen leeren Sessel.
Er küßte die Rose mehrere Male mit Inbrunst,
dann eilte er mit raschen Schritten durch den herrlichen
Park nach seinem Wagen und kehrte in scharfen: Trabe
nach Neapel zurück.
Die Verhaftung Don Gianino Ceruzzi's, die der
Staatsanwalt Ghilazzi in's Werk gesetzt hatte, ver-
ursachte in gewissen Kreisen der neapolitanischen Ge-
sellschaft eine unheimliche Aufregung. Don Gianino
wußte zu viel, und wenn er auch vorläufig nur wegen
Erpressung verhaftet worden war, so glaubte inan doch,
daß sich die Untersuchung auch auf andere dunkle Ope-
rationen, von denen er etwa wissen könnte, erstrecken
würde. Wenn Don Gianino dabei in's Plaudern kam,
so konnte das Manchem an die Kehle gehen.
Namentlich der alte Castaldi war von der Nachricht
über das Unglück, das seinen theuren Freund betroffen
hatte, wie niedergedonnert. Die Verhaftung seines
Sohnes hatte er schon schwer empfunden, diejenige Don
Gianino's traf ihn aber selbst wie eine finstere Be-
drohung, wie ein Unheil. Scheu und ängstlich lief er
tagelang durch die Straßen und wagte sich weder in
sein Bureau, noch in seine Wohnung. Ueberall glaubte
er Geheimpolizisten um sich zu sehen, und ost war es
ihn: im dicksten Straßengewühl, als ob ein Arm sich
aus der Menge herausrecke, der ihn beim Kragen
nehmen wolle. —
Es war wieder in den Abendstunden, als Castaldi
am Hafen Herumstrich, wo er dei: alten Carluccis zuerst
getroffen hatte, aber er fand ihn nicht mehr an dem
gewohnten Platz. Hatte er schon Wind bekommen und
war ausgerückt? Carluccio war eben auch eine von
jenen dunklen Existenzen, die bald hier, bald dort auf-
tauchen, immer dort find, wo man sie nicht vcrmuthet,
und niemals da, wo man sie sucht; einer von jenen
Besitzlosen, die in Neapel der Schrecken aller Behörden
sind. Wie schlimm war dagegen Castaldi daran! Er
war Eigenthümer. Wenn er sich auch versteckte, wenn
er floh — konnte er seine Weinberge in Positano mit-
nehmen? Und das war es auch, was ihn um alle Be-
sinnung zu bringen schien. Er fühlte sich unsicher.
Wenn seine verschiedenen Beziehungen an's Tageslicht
kamen, war er ein geschlagener, verlorener Mann. Es
mußte also etwas geschehen, etwas Entscheidendes, Durch-
schlagendes, das "ihn aus allen diesen Verlegenheiten
und Bedrohungen herausriß.
Er wußte auch schon, was geschehen müsse. Er war
sich darüber schon seit Wochen klar gewesen, aber die
eigene Noth, in die er nun gerathen war, drängte ihn
kategorisch zur Ausführung. Jetzt durfte er nicht inehr
warten und zaudern und die gute Gelegenheit abpassen.
Er mußte handeln oder er war verloren.
Er ging langsam an: Hafen hin, denselben Weg,
dei: er seiner Zeit mit Carluccio zurückgelegt hatte, als