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mnngen, die über uns kommen, sehr oft zugleich auch
traurige Weisen in unserer Seele erklingen? Ich bin
in meinen früheren Jahren sehr häufig des Morgens
schon mit einem Trauerchoral im Kopfe aufgewacht, den
ich dann stundenlang nicht wieder loswerden konnte.
Es ivar mir zuweilen, als ob ein heimlicher Drehorgel-
spieler in meinem Kopfe Platz genommen hätte, der
unentwegt, an was ich auch sonst denken mochte oder
denken wollte, sein qualvolles Klagelied fortleierte. Ich
weiß nun, offen gestanden, wirklich nicht mehr, wie es
kam, ob es Zufall war, oder ob mein gemartertes Hirn
eines Tages selbst den ingeniösen Gedanken hatte, meinem
Leiermann die Orgel einmal umzustellen und ihn, an-
statt des Grabliedes, eine fröhliche Weise spielen zu
lassen; aber wie komisch auch die Sache erscheinen möge,
ich hatte in diesem Augenblick ein probates Mittel gegen
üble Laune gefunden. Ich sage absichtlich nicht er-
funden, weil ich mir nicht denken kann, daß nicht auch
Andere schon auf diesen Gedanken gekommen sein sollten.

Das Buch für All e.
Seit Jahren lasse ich meinem „Leiermann" gar nicht
mehr die Zeit, eine tragische Weise, für welche er eine
ganz besondere Vorliebe zu haben scheint, zu beginnen,
sondern komme ihm mit einer lustigen Weise zuvor.
Man wird hier vielleicht einwenden wollen, daß
man ja doch durch jede andere heitere, nicht musikalische
Vorstellung dieselbe Wirkung erzielen könnte. Das würde
jedoch schwerlich der Fall sein, denn es ist in der That
weniger die heitere Vorstellung, die unser Gemüth in
dem Augenblick beeinflußt, als der Rhythmus, der heitere
Ruck und Zug, der in einer lustigen Musik unsere
Nerven packt und die schwerfällige Lebensmaschine wieder
in flotteren Gang bringt. Es ist daher auch durchaus
nicht erforderlich, bei der Anwendung unseres musika-
lischen Heilmittels gegen üble Laune besonders wählerisch
zu sein und etwa gar nur klassische Stücke dafür aus-
zusuchen, vielmehr thut's die erste beste muntere Operetten-
melodie. Ich habe mir lange Zeit meine trüben Stim-
mungen durch den einst sehr beliebten „Höher Peter-

Hcst 8.
Marsch" verscheucht, von dein ich erst einige Takte
halblaut vor mich hinsummte und dann die Fortsetzung
meinem Leiermann im Kopfe überließ. Ich glaube aber,
daß die „Schöne blaue Donau", die „Kleine Fischerin",
oder die „Holzauktion" dieselbe heilsame Wirkung haben
werden.
Und nun noch ein mimisch-physiognomisches Auf-
heiterungsmittel!
Schon Kant hebt in seinen Schriften hervor, daß
man sich durch willkürliche Annahme einer bestimmten
Haltung in eine entsprechende Gemüthsstimmung ver-
setzen kann und stellt u. A. den Satz auf, „daß man
Kinder, vorzüglich Mädchen, frühe zum ungezwungenen
Lächeln gewöhnen müsse, denn die Erheiterung der Ge-
sichtszüge drücke sich nach und nach im Innern ab
und begründe eine Disposition zur Fröhlichkeit." Und
vr. Dietz sagt in seinem „Versuch einer theoretischen
Begründung der Physiognomik" Folgendes: „Häufig
wirkt sogar die angenommene Miene auf den Gemütsts-


Gänselstrndrer in den Straßen von ZZertin- Nach einer Origmalskizze von C. Hosang. (S. 203)

zustand zurück, und unter den Bemühungen, eine gewisse
Stimmung zu heucheln, entsteht sie wirklich. Wer mit
trübem Herzen in eine Gesellschaft tritt, wird oft über
den Bemühungen, seinen Schmerz zu verbergen, wirklich
heiter; der Schauspieler, der sich die treue Darstellung
seiner Nolle recht angelegen sein läßt, wird endlich selber
in die darin „ausgedrückte Stimmung verfallen." —
Der Besitzer eines Parks, erzählt Zimmermann, hatte
den barocken Einfall, ein kleines Lusthaus aus Baum-
stämmen, die sogenannte Einsiedelei, von einem Manne
bewohnen zu lassen, der im Gewände eines Eremiten
mit den traurigsten Geberden den Besuchern eine rührende
Geschichte erzählen mußte, wie er Frau und Kinder-
verloren habe und Einsiedler geworden sei. Dieser
Mann spielte seine Komödie so ost und so treu, daß er-
ste endlich in einer Art Wahnsinn selber für wahr hielt.
Ausführlicher noch äußert sich der bekannte Professor
W. Wundt zu dieser Sache und sagt in einem Aufsatz
über den Ausdruck der Gemütsbewegungen Folgendes:
„Wie die mimische Bewegung als ein äußerer, sinnlicher
Reflex eines inneren Seelenzustandes uns entgegentritt,
so besitzt sie auf der anderen Seite die Eigenschaft,
wieder auf diesen zurückzuwirken, indem sie ihn unter-
hält und verstärkt. Es geschieht dies vermöge des näm-
lichen Gesetzes der Verbindung ähnlicher Empfindungen,
welcher der mimische Ausdruck selbst seinen Ursprung
verdankt. Wie das sinnliche Gefühl durch die innere
Gemütsbewegung geweckt wird und mit ihr wächst, so

richtet sich hinwiederum die Gemütsbewegung an den
starken sinnlichen Empfindungen empor, die ihre Aus-
drucksbewegungen begleiten. Daß man sich in den
Aerger hineinreden, in die Wuth hineinrasen kann, ist
eine bekannte Sache. Kluge Mütter wissen es wohl,
daß es meistens nicht schwer ist, den Weinparoxysmus
eines Kindes zu beseitigen, wenn man nur im Momente,
wo er loszubrechen droht, die Aufmerksamkeit abzulenken
versteht. Aber wehe, wenn dieser Moment versäumt
wird und wenn nun der kleine Schreier längst nicht
mehr über den Schmerz, der ihm zuerst die Laune ge-
stört, sondern im Grunde nur noch über sein eigenes
Jammern jammert! In verschiedenen Gegenden Deutsch-
lands gab es früher sogenannte Klageweiber, welche
man dafür bezahlte, daß sie einen Verstorbenen möglichst
laut betrauerten. Schwerlich würde ein Mensch im
Stande sein, mehrere Stunden lang einer Gemüths-
bewegung Ausdruck zu geben, die er gar nicht besitzt,
wenn es nicht auch hier sich geltend machte, daß der
Ausdruck selbst die Gemüthsbewegung herbeiführt. Was
anfänglich Kunst war, wird nach und nach Natur, und
dies nur so schneller, je heftiger der Ausdruck der Ge-
berden ist."
Schließlich sei noch Darwin's Meinung über diesen
Punkt angeführt. „Selbst das Heucheln einer Gemüths-
bewegung," heißt es am Schlüsse seines berühmten
Werkes über den Ausdruck, „erregt dieselbe leicht in
unserer Seele."

Und sollte es da nicht möglich sein, auf diesem
mimisch-reflektorischen Wege auch im gewöhnlichen Leben
eine fröhliche Stimmung durch Annahme eines heiteren
Gesichtsausdrucks zu erzeugen?
Hören: wir noch, wie sich eine bekannte Autorität
auf dein Gebiete der einschlägigen Literatur zu dieser
Frage verhält. Ich meine Karl Julius Weber, den
„lachenden Philosophei:", der ii: seinem „Demokritos"
sagt: „Bei Gran: und Kummer muß inan es wie ein
Höfling nut seinem übelgelaunten Herri: halte::: nur
sich heiter gestellt und man wird heiter! Leib und
Seele gehen sich doch näher an, als Herr und Diener.
Ich bin aus Erfahrung überzeugt, daß, wenn inan eine
Zeitlang auf einem Sopha, oder, wenn man keines hat,
im altmodischen Großvaterstuhl auch nur die Lachmus-
keln bewegt, inan au: Ende nicht blos mit den: Mnnde,
sondern selbst von Herzen lachen kann, sei auch die
Stirne gefurcht wie neugepflügter Acker. Aufgeglüttet
— immer aufgeglättet! Das klebrige folgt nach, und
der Fuhrmann spannt zu Zeiten seine Pferde auch hinter
den Wagen." . . .
Ich will jetzt bekennen, daß ich nur deshalb die
diesbezügliche!: Auslassungei: nennenswertster Autoren
hier des Längeren angeführt habe, nur meine Beobach-
tungen, die ich nicht einmal, sondern wiederholt an inir
selbst erfahren habe, den: geneigten Leser mitzutheilen,
und die ihm, ohne die Bestätigungei: durch die ge-
nannten Männer, leicht als Phantastereien hätten er-
 
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