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498

zu thun, als daß mein Auftrag so oder so ausgeführt
wird, uud ich meine Spesen bekomme.'"
Dryful machte die bedächtige, gelehrte uud steife
Sprechweife des Advokaten so gut uach, daß Tapperday
in eine fürchterliche Aufregung gerieth und um sich
herumschlug, als ob er Finding iu Person gegenüber-
gestanden hätte.
„Das leuchtete mir ein," fuhr Dryful fort, „und
ich sagte das Finding, worauf dieser meinte: .Damit
ich aber meiner Spesen nicht verlustig gehe, und Nie-
mand daran zweifeln kann, daß ich wirklich in Tewkes-
bury war und meinen Auftrag ausgerichtet habe, haben
Sie wohl die Güte und bescheinigen mir, daß Sie mit
mir persönlich verhandelt haben uud sich bis auf Weiteres
weigern, meinen Auftrag zu erfüllen^ den Kontrakt zu
unterschreiben.' Einen Schein, der das besagte, hatte
er schon fix und fertig in der Tasche, und ich unter-
schrieb ihn, nur um momentan den schleichenden Feder-
fuchser wieder los zu werden. Nun höre, Will, was
weiter geschah. Zwei Tage darauf kommt ein Bursche
zu mir auf den Hof und sagt zu mir, er sei David
Niggs, ein Neffe des Advokaten Finding, und er sei
der neue Pächter!"
Tapperday konnte vor Ueberraschung keinen Schritt
weiter gehen und starrte seinem Jugendfreund wüthend
in'S Gesicht.
„Dabei zieht er seinen Handschuh aus — ich bitte
Dich, Will, ein neuer Pächter mit Glacehandschuhen —
und zeigt mir den neuen Kontrakt, den er mit der Vor-
mundschaft von Miß Jefferson abgeschlossen hat. Nota-
bene! Das war nicht der Kontrakt, der mir gezeigt
worden war, sondern das war ein Kontrakt, wie ihn
etwa der Vater mit seinem Sohn, oder der Onkel mit
seinem Erbneffen macht — —"
„Schufte, Schufte!" schimpfte Tapperday und spie
entsetzlich heftig und oft aus.
„Was soll ich nun thun, Will?"
„Du mußt Dich mit dein alten Finding boxen, Bob.
Du bist der Mann dazu. Du mußt ihm zwei oder drei
Rippen durchstoßen."
Bob schüttelte langsam den Kopf. „So geht's nicht,
Will. So geht's nicht."
„So geht's nicht, Bob? Du bist ein starker Alanin
Nur Muth. Es geht."
„Nein. Wir müssen es anders machen."
„Anders. Dann gibt's nur noch einen Nath."
„Und der wäre?"
„Wir trinken zunächst ein Glas zusammen."
„Das geht!" bestätigte Dryful, und die Beiden traten
in eine Schänke, die an der Ecke einer kleinen Seiten-
straße und des Whitechapel-Road stand, wo sie ihren
Kummer und ihren Zorn in einem kleinen Gläschen
Shrub — eine Art Punsch — zu ersäufen dachten.
In der Begeisterung, die sich dadurch bei dem etwas
leicht erregbaren Tapperday einstellte, sagte er zu sei-
nem großen Freund: „Du mußt heute bei mir essen."
Jener meinte dagegen: „Oder Du mit mir!"
„Unsinn, Bob, komm nur. Morgen gehst Du nach
Westhampton-Eourt zu Miß Jessie. Heute ist es ja
doch schon zu spät. Komm, Bob. Wir müssen gehen.
Kitty wartet."
Die beiden Freunde traten wieder auf die Straße
und Tapperday wand und schlängelte sich nut einer
Behendigkeit und Geschicklichkeit durch das gerade jetzt
herrschende entsetzliche Gewühl und Getümmel, daß ihm
sein Freund, der mehr an die von weiten grünen Wiesen
umsäumten Landstraßen der Provinz gewöhnt war, kaum
zu folgen vermochte.
Omnibus, Cabs, Herrschaftswagen, Tramwagen,
Bäcker-, Fleischer-, Bier- und andere Geschäftswagen,
Fußgänger, theils mit großen oder kleinen Packeten,
Ausschreier, Vertreter von allerhand Kleinhandel lärmten,
stießen und drängten durcheinander, wogten hin und her
ivie ein wildes Meer, so daß es dem biederen Pächter
aus Tewkesbury angst und bange wurde. Waren denn
die Leute in London alle verrückt? fragte er sich, indem
er nur mit Mühe hinter Tapperday herkeuchte. Wo kamen
denn diese Fluthen von Menschen her, die sich hier
Stunde auf stunde, Tag für Tag, Jahr auf Jahr, auf
diese Straßen ergossen? Was hatten sie Alle vor? Wo-
hin wollten sie denn? . . . Welch' ein großartiges Theater
die Welt ist! dachte Bob Dryful, und welche riesigen
Massenscenen das Straßenleben von London bietet! —
Endlich bog Tapperday in den Whitel-Court ein.
Der Whitel-Court sah eigentlich aus wie ein großes
Gefängnis;, nur schmutziger, vernachlässigter, ohne Auf-
sicht. Außer dem Einkassirer der Miethe, der an jedem
Sonnabend Abend kam, um die fälligen Beträge zu holen,
oder es doch versuchte, sie zu holen, wurde in Whitel-
Court nie eine Respektsperson gesehen. Wenn man be-
denkt, daß fast vierhundert Menschen ihn bewohnten,
so kann man sich ungefähr denken, wie das aussah, und
was da Alles zu sehen war. Dryful erschrak, als er
den Whitel-Court erblickte und bedauerte die Leute, die
hier wohnen mußten, weil ihnen die große Weltstadt
wohl Nahrung, aber keine bessere Wohnung bot.
„Komm, Bob, komm," ermuthigte ihn sein Führer.
Er sah von all' dem Elend nichts, denn er hatte sich

Das B u ch f ü r All e.

in den drei Jahren seines hiesigen Aufenthalts daran
gewöhnt, daran gewöhnen müssen. Dryful dagegen, der
an die weiten, luftigen Wohnräume von Tewkesbury
gewöhnt war, an die würzige, reine Waldluft, an die
grüne Pracht des Landes, und dem feuchter Dunst und
Gestank den Athem versetzte, verwünschte in diesem
Augenblick alle Großstädte der Welt.
Endlich sah er, wie Tapperday vor einer Thüre im
dritten Stock stehen blieb und mit allen Zeichen leb-
hafter Aufregung horchte. Was hatte er? Warum trat
er nicht ein? Dryful trat herzu. Die Thüre war nur
angelehnt, nicht geschlossen.
„Gehen Sie, Hugh," hörte Dryful drinnen eine be-
kümmerte, aber glockenreine, weiche Stimme sagen, „gehen
Sie. Ich will zu vergessen suchen, was Sie mir gesagt
haben, und verlange von Ihnen weiter nichts, als daß
Sie nie wieder den Fuß über diese Schwelle setzen."
„Kitty, thue nur den einzigen Gefallen," sagte jetzt
eine Männerstimme, „und weine nicht. Es ist nicht
meine Schuld, sondern die Schuld der Welt, daß nur
von einander getrennt werden. Mein Vater hat mir ge-
sagt, er sei ruinirt, wenn ich nicht meine Base Jessie
heirathete. Du weißt doch, ums das heißt, Kitty, und
wirst begreifen, daß ich so handeln muß, wie ich handle.
Wie sehr mir das Herz dabei blutet —"
„Gehen Sie, Hugh, ich bitte Sie," sagte die andere
Stimme wieder. „Thun Sie, was Sie nicht lassen
können, retten Sie Ihren Vater, retten Sie sich, indem
Sie Ihre Base heirathen und — — verlassen Sie mich.
Möge nie der Tag kommen, Hugh, an welchem das,
was Sie die Schuld der Welt nennen, sich als Ihre
Schuld erweist und Sie in's Unglück stürzt, möge
nie-"
Kitty brach hier in ein Schluchzen aus, und die
männliche Stimme fuhr bittender, dringlicher und ängst-
licher fort: „Kitty, Kitty, weine nicht! Du brichst mir
das Herz mit Deinen Thrünen. Kann ich meinem
Vater gegenübertreten, wie ich es wünschte? Darf ich
es? Er ist alt, meine Mutter ist an ein vornehmes
Leben gewöhnt, was soll aus uns werden, wenn ich
thue, was Du wünschest?"
„Ich wünsche nichts, Hugh, sondern ich verlange nur,
daß Sie mich verlassen."
„Kitty, bei meiner Seele, ich will mich lieber tödten,
als Dich erzürnen, aber ich darf nicht. Ich will gehen,
Kitty, und Dich nie, nie wiedersehen, wenn-wenn
Du es wünschest, aber Du sollst nicht an mich denken
als an einen Verräther, an einen Lügner, an einen
Spekulanten, sondern Du sollst an mich denken als an
einen armen Unglücklichen, den das Getriebe der Welt
erfaßt hat und ihn in eine Strömung hineinzwängt,
der er nicht widerstehen kann. Ich sehe die grüne Insel
des Glücks, Kitty, aber ich kann nicht zu ihr gelangen.
Der Strom treibt mich mit Gewalt an ihr vorüber -
in's Meer hinaus — wer weiß, wohin?"
Der Punsch wirkte bei Tapperday in bedenklicher
Weise nach. Er achtete nicht auf die flehende Stimme
des jungen Mannes, auf die herzbewegenden Worte
und stürmte jetzt hastig und zornig in's Zimmer. Bob
folgte.
„Ha, ich dachte es," polterte er mit Gesten, als ob
er einen Ochsen schlachten wolle, „er ist es. Weißt Du,
wer es ist, Bob? Es ist Hugh Jefferson, es ist der
Sohn des Onkels, des Vormunds. Willst Du die Güte
haben, ihn die Treppe hinabzuwerfen?"
Bob sah zuerst auf Kitty. Er sah in ein bleiches,
liebliches Unfchuldsgesicht mit rührend großen Augen,
die ihn hilflos, bittend, wie echte Kinderaugen ansahen.
Dann sah er, wie ihre Lippen sich bewegten, als ob sie
etwas zu sagen gehabt hätte. Es waren außerordentlich
zierliche, feingeschnittene, schmale Lippen, und dahinter
waren die weitesten, regelmäßigsten Zähnchen von ganz
England — wie Bob meinte. Und als ihr Bruder
solchen Lärm machte, richtete sie die großen Märchen-
augen erschrocken auf diesen, ihre Hände streckten sich
ihm beschwichtigend entgegen, und aus den feinen,
rosigen Lippen kam es leise und ängstlich heraus: „Will,
Will!"
„Willst Du die Güte haben, ihn die Treppe hinab-
zuwerfen?" wiederholte Will nut einer fast blutdürstigen
Ausdauer.
Der große, breitschulterige Bob sah sich nun den
eleganten Mr. Hugh Jefferson an. Es schien, als wenn
er wirklich „die Güte haben" möchte, zu thun, was Will
von ihm verlangte.
„Mr. Tapperday," begann jetzt Hugh mit ernster
Betonung und etwas bleichen, vor Aufregung zuckenden
Lippen, „ich fühle sehr wohl, daß ich Ihnen für meine
Anwesenheit in Ihrer Behausung eine Erklärung schuldig
bin, und ich bin bereit, sie zu geben, wenn Sie die
Güte haben wollen, sie anzuhören."
„Hast Du es gehört, Bob?" fragte Tapperday, in-
dem er immer noch ungestüme Bewegungen machte,
„erklären will er, was er hier bei Kitty noch zu suchen
hat! Erklären will er, was überhaupt nicht zu erklären
ist, was eine Ruchlosigkeit, eine Infamie an sich ist!
Bitte, Bob, fei so gut und wirf ihn die Treppe hinunter,
und wenn er zehnmal der Sohn vom Onkel ist."

Heft 21.
„Mein sehr werther Herr," sagte Hugh jetzt zu
Dryful gewendet, „ich habe nicht die Ehre, Sie zu kennen,
lese aber auf Ihren Zügen, daß Sie ruhiger und be-
sonnener eine Erklärung entgegen nehmen werden, die
ich als Gentleman zu geben mich verpflichtet fühle."
„Sprechen Sie, Mr. Jefferson, sprechen Sie," ver-
setzte Bob, „aber fassen Sie sich kurz. Sie kommen
dadurch unserem lebhaften Wunsch entgegen."
„Sehr richtig," fuhr Tapperday hitzig dazwischen,
„unserem außerordentlich lebhaften Wunsch, Sie zu
wissen, wo der Pfeffer wächst."
„Mein sehr werther Herr," sagte Hugh und nahm
feinen Hut, „ich habe mir erlaubt, Miß Tapperday einen
Besuch zu machen, um ihr auseinanderzusetzen, daß nur
die äußerste Zwangslage mich verhindert, einen Verkehr
fortzufetzen, der, bisher mein Glück, auch in Zukunft
die höchste Seligkeit für mich gewesen sein würde. Ich
habe versucht, ihr auseinanderzusetzen, daß mich sowohl
die Pflicht des Mannes, der in der Welt feine Stellung
zu behaupten hat, nm- Wcch die Pflicht des Sohnes,
der seinen alten hilflosen Eltern Stab und Stütze sein
muß, in einen Weg weist, der mich von ihr trennt."
„Genug, genug," rief Tapperday zornig dazwischen,
„diefe säubern Redensarten kennen wir fchon. Höre
nicht mehr auf ihn, Bob. Er ist ein Feigling. Er
will nicht nach Westen gehen. Ich bitte Dich, Bob,
wirs — —"
„Mein sehr werther Herr," wandte Hugh sich wie-
der an Dryful, „Sie wissen, daß ich nicht der Einzige
bin, den Welt und Gesellschaft zwingt zu thun, was
er nicht mag, ob aber Jemand der Verzicht auf feine
Wünsche so schmerzlich ist, wie mir, das bezweifle ich."
Kitty schluchzte, wollte etwas sagen, sagte aber
nichts, und Hugh fuhr fort: „Wer Welt und Gesell-
schaft kennt, wird mich entschuldigen, wird finden, daß
ich fo handeln muß, wie ich gethan, und wie ich schon
soeben zu Miß Kitty selbst sagte, es ist nicht meine
Schuld, daß nur 'uns trennen müssen, sondern die
Schuld der Welt, die mich zwingt zu handeln, wie ich
es thue."
„Mr. Jefferson," nahm jetzt Bob das Wort, „ich
lasse es dahingestellt, ob es sich bei Ihrer Trennung
von Miß Kitty Tapperday um ein Unglück oder um
Glück handelt. Das wissen Sie jetzt so wenig, wie
irgend Jemand. Das muß die Zukunft lehren. Ver-
standen? Ich allerdings kann Ihnen nicht verhehlen,
daß ich wünsche, es fei ein Glück. Und damit Gott
befohlen. Adieu, Sir!"
Diese ebenso klare, wie kurze Auseinandersetzung
verfehlte auf die Anwesenden ihre Wirkung nicht. Kitty
hörte plötzlich auf zu weinen und sah Bob groß an,
ihr Bruder aber schrie lärmend einmal über das andere:
„Ein Glück, ein Glück, natürlich ein Glück!"
Hugh machte eine ziemlich verdutzte Verbeugung und
verließ das Zimmer.
Wenn nun auch bei dem nachfolgenden Abendessen,
das die drei zurückgebliebenen Personell gemeinschaftlich
einnahmen, Tapperday manchmal noch bedauerte, daß
Bob den jungen Jefferson nicht hinuntergeworsen habe,
und Kitty mehrmals mit thränennasfen Augen starr
vor sich hinblickte, fo kehrte doch allmälig eine ruhigere
Stimmung zurück. Nach und nach kam die Freude zur
Geltung, welche die drei Personen bei dem Wiedersehen
nach drei Jahren empfanden: Kitty war, als Bob sie
das letzte Mal gesehen, nach seiner Aussage noch ein
„ganz kleines Mädel" gewesen, was Kitty wieder leb-
haft bestritt, indem sie sagte, sie sei mindestens scholl
ein Backfisch gewesen. Schließlich gelangte der Antrag
Tapperday's, zur Feier des Wiedersehens in der Lam-
bert-Street einer Flasche Doppelbier „den Hals zu
brechen", zur einstimmigen Annahme.

5.
Der nächste Tag war ein Sonntag und zwar einer
der unerträglichsten voll den unerträglichen Londoner
Sonntagen. Es war, trotzdem mail sich fchon spät im
Herbst befand, doch ausnehmend warm, die Straßen
voll Dunst und Staub, eine bleierne, schwere, dicke,
langweilige Luft.
„Du willst nach Westhampton-Court fahren, Simon?"
fragte Mrs. Jefferson ihren Mann.
„Ja," antwortete Simon Jefferson und fuhr nach-
denklich mit der Hand über seine Rockknöpfe hin.
„Und wie geht's meiner armen Nichte Jefsie? Hat
sie sich noch immer nicht wieder erholt? Es sind doch
fchon mehrere Monate seit dem Unglücksfall verflossen,
der ihr den Vater raubte."
„Freilich, freilich, scholl Monate, aber Jessie sieht
aus, als ob es gestern gewesen sei. Sie sieht aus
geilau wie am erstell Tag nach ihres Vaters Tod."
„Mein Gott, was sagt denn ihr Arzt, der vortreff-
liche Doktor Strehlen, dazu?"
„Strehlen ist ein Esel."
„Wie sagst Dli, Simon? Ich habe doch immer
gehört, daß Strehlen ein so tüchtiger Arzt sei."
Simon runzelte die Stirn und zog seine Hand-
schuhe ail.
 
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