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Das B u ck> f ü r All e.

Ml 0 9.

Lippen Jessie'S, „nur nicht wahnsinnig, nur nicht wahn-
sinnig las; wich iverren!"

Bob Dryful war ein offener, ehrlicher, gerader
Mensch, und weil ihm offenbar Unrecht geschehen war,
so glaubte er, die Menschen würden nun nichts Eiligeres
zu thun haben, als das Unrecht wieder gut zu wachen.
Er hatte noch keinen Begriff von den eigenthüwlich
verwickelten und verzwickten Verhältnissen der mensch-
lichen Gesellschaft. Aber er sollte in den nächsten Tagen
feines Londoner Aufenthalts schon einen Begriff davon
bekommen.
Bob fand nach längerem Fehlgehen in der Riesen-
stadt London endlich Mr. Tiwon Jefferson's Haus.
Er hatte Glück. Der Herr war zu Hause lind erklärte
sich in liebenswürdigster Weise bereit, ihn zu em-
pfangen.
Nachdem Bob sein Anliegen so gut es ihm möglich
war, vorgebracht und Sir Simon sehr gütig, sehr auf-
merksam und sehr würdig zugehört hatte, sagte Letzterem
„Sehr schön! Sie werden begreifen, Mr. Dryful, das;
ich noch mehrere Angelegenheiten zu besorgen habe,
außer denen meiner Nichte. So zum Beispiel meine
eigenen. Da ich nebenher gesagt, kein Jurist bin, so
werden Sie ferner begreifen, mein sehr werther Sir,
das; ich für dergleichen Angelegenheiten eine juristische
Hilfe habe; das ist in diesen; Falle Mr. James Finding
in LineolnSinn, ein sehr ehrenwerther Main;. Haben
Sie die Güte, Mr. Dryful, sich dorthin zu wenden."
Bob stiefelte also wieder weiter und kam nach neueren
Irrfahrten auch glücklich nach LineolnSinn, wo er, mit
schon gemischteren Gefühlen, dem ehrenwerthen Mr. Ja-
mes Finding seine Klagen vortrug.
„Geht mich gar nichts an," antwortete der ord-
nungsliebende Mr. Finding, „ist Vormundschastsgerichts-
sache. Der Kontrakt ist von; Vormundschaftsgericht
abgeschlossen und bestätigt. Bitte, mein sehr werther
Sir, wenden Sie sich dorthin."
Auch dahiu fand sich Bob richtig. Er wurde hier-
in wenigstens ein Dutzend verschiedene Bureaur geführt.
In jedem sagte Bob seine Rede, die er nun schon sehr-
geläufig konnte, her und irr jeden; antwortete der be-
treffende Herr, den; er sie au'ragte, das; er von der
Sache nichts wisse, und er sich ar; einen Anderen, dor-
thin auch namhaft gemacht wurde, wenden müsse. End-
lich sand Bob eine mitleidige Seele, die sich seiner-
erbarmte.
„Aber, mein Lieber," sagte der Betreffende zu ihn;,
„warum gehen Sie dem; nicht zu den; Vormund, zu
Mr. Simon Jefferson selbst? Wir können ja nichts
thun, wenn nicht vor; den; Vormund ein Antrag vor-
liegt."
Bob sing also seine Rundreise wieder vor; vorn an.
Was sollte er thun? Seine alte gute Mutter fas; in
Tewkesbury und wartete, das; ihr Sohr; eine gute
Nachricht nach Hause brachte. Sollte er uuu seiner
Mutter sagen: „Mar; hat mich vor; PontiuS zu Pilatus
geschickt, bis ich endlich wieder nach Hause gefahren;
dir;?" Sollte er seiner Mutter das Herz brechen;? Sie
war in den; Hof groß und alt geworden. Nur; sollte
sie auf eiumal fort. Wohin?
Geduldig wanderte Bob also wieder von; Strand
nach LineolnSinn, von LineolnSinn nach Old Bayley
und von dort wieder nach den; Strand. Die Flüche
unterdrückte er, die Thränen verschluckte er. Seit vicr
Tagen lief er in dieser Weise in London herum. Zum
fünften oder sechsten Male kam er nach LineolnSinn.
Tapperday sah ihn kommen, niedergeschlagen, traurig,
nut weichen, bittenden .Zügen. Wieder schlug Tapperday
wüthend mit der Faust auf sei;; Pult, trotzdem daß
diesmal gar keine Fliege da saß, und sagte mit fester
Entschlossenheit: „Bob, so geht'S nicht. Wir müssen'S
anders machen."
„Was nullst Du thun, Will? Mache nur keine
Dummheiten."
„Komm! Es ist Alles eins! Meinethalben kann
das nun werden, wie es null, komm. Wir wollen
einmal mit Finding reden, wie zwei richtige Jungen aus
Tewkesbury."
„Er hat doch nicht etwa wieder Shrub getrunken?"
dachte sich Bob, folgte aber seinem Freunde, der tapfer
und todesmuthig in das Privatbureau Finding's vor-
ausschritt.
Der Advokat hatte sich gerade herumgedreht und
sah in seinen Spiegel, um seine Kravatte, die sich etwas
verschoben hatte, zurechtzurücken. Er war nun einmal
ein Mann der Ordnung. Als er die Beiden im Spiegel
sah, lächelte er ein wenig, machte aber sofort wieder-
ein ernstes, steifes Gesicht und drehte sich nach ihnen um.
„Mr. Finding," sagte Will nut einer unternehmen-
den Großartigkeit und Kaltblütigkeit, „Sie wissen, das;
nur Beide aus Tewkesbury sind."
„Gewiß, Mr. Tapperday, das weis; ich sehr wohl."
„Sie wissen auch, das; man in Tewkesbury genau
so gut wie in London die Gimpel pfeifen hört."
„Vermuthlich besser, als hier, weil in London wenig

Gimpel vorhanden sind und die vorhandenen nicht
pfeifen."
„Well, Sir, Sie wissen, was ich meine."
„Nicht in; Geringsten, Nir. Tapperday. Wenn Sie
aber etwas sage;; wolle;;, so möchte ich Sie bitten, sich
etwas deutlicher auszudrückeii. Jndesseu sehe ich wohl,
das; Sie stark erregt sind. Ich null wetten, Mr. Tapper-
day, das; Sie in; Begriff sind, eine Dummheit zu
sagen."
„Und ich null ivelten, Sir, das; entweder mein
Freund Bob seine Pacht in Tewkesbury wieder bekommt,
oder Miß Jessie Jefferson niemals ihren Vetter Hugh
heirathen wird."
Einen Moment schien der Mann des Gesetzes und
der Ordnung überrascht und stutzte. Dann aber lächelte
er behäbig über das ganze Gesicht, als ob er eben einen
ausgezeichneten Witz gehört habe.
„In der That, Nir. Tapperday," sagte er noch immer
lächelnd, „die wunderlichste Wette, die ich je gehört
habe. Aber ich fürchte, Sie werden sie verlieren."
„Wenn ich sie verliere, Nir. Finding, das will heißen,
wenn mein Freund Bob seine Pacht nicht wieder be-
kommen soll, so fahre ich stehenden Fußes nach West-
Hampton-Eourt, um der Miß Jefferson zu sagen, daß
sie von ihren; Vetter Hugh genau so schamlos betrogen
und hintergangen wird, wie meine Schwester Kitty."
Es entstand eine kleine Pause. Triumphirend sah
Will erst Finding, dann Bob an. Der Advokat blickte
nachdenklich über sein Pult weg und kaute an den
Nägeln.
„Und inwiefern meinen Sie, Mr. Tapperday, das;
mich das imcressirt?" fragte er endlich.
„Ich meine, das; Sie das insofern interessirt, als
Sie Nir. Mmon Jefferson veranlassen werden, die be-
wußte Eingabe an das Vorinundschaftsgericht wegen der
Pacht in Tewkesbury zu machen, Sir."
Finding besah sehr aufmerksam und sehr zufrieden
das Werk seiner Zähne an seinen Nägeln.
„Mr. Tapperday," sagte'er endlich wieder, „Sie
irren sich; was Sie mir da sagen, interessirt mich gar
nicht. Sie wollen uns drohen! Hören Sie aber zu,
was ich uuu Ihnen zu sagen habe. Ich bin es müde,
mir von Ihnen alberne und einfältige Seenen machen
zu lassen. Die Rücksicht, die ich bisher auf Ihre trau-
rigen; Verhältnisse und auf Ihre unschuldige Schwester
genommeu habe, kann mich nach so vielen nutzlosen
Verwarnungen nicht mehr abhalten, Sie zu entlassen."
„Sir —!" fuhr Tapperday auf.
„Hören Sie zu," unterbrach ihn Finding mit strenger,
etwas erhobener Stimme. „Ich weis; natürlich nicht,
was Ihnen aus Zorn und Rache über Ihre Entlassung
Alles beifallen wird, mir gegenüber zu thun, aber Sie
werden verstehen, das; ich dafür sorgen werde, daß alles
das, was von Seiten eines weggejagten Schreibers mir
gegenüber gethan werden könnte, auch in das richtige
Licht kommt. Ob Sie zunächst von Miß Jefferson
empfangen werden, das ist vorläufig noch sehr, sehr
zweifelhaft."
„Ich werde empfangen werden, Sir, ich werde em-
pfangen werden und Sie verderben!" schrie Tapperday
furchtbar aufgeregt und den; Advokaten seinen Achat-
ring unter die Nase haltend.
Finding schien die Bedeutung dieser Grimasse nicht
zu erfassen, denn sonst würde er vielleicht doch weniger
hart mit seinen; Schreiber verfahren sein. So fuhr er
aber fort: „Gut, Sir, ich setze den Fall, Sie werden
von Miß Jefferson empfangen, so wird man Sie eben
als einen weggejagten Schreiber empfangen. Sie wissen,
was ich meine! Man wird Ihnen nichts glauben.
Was besonders Mr. Hugh Jefferson's früheres Ver-
hältnis; zu Ihrer Schwester Kitty betrifft, so sollten
Sie doch selbst folgern, daß Hugh Jefferson seine Base
mehr liebt, als Fhre Schwester Kitty, denn sonst hätte
er doch Diese nicht wegen Jener verlassen! Sie werden
also mit Ihren; Märchen bei Miß Jefferson gerade das
Gegentheil von dem erreichen, was Sie erreichen wollen.
Denn Miß Jefferson wird daraus, das; ihr Vetter Kitty
verlassen hat, ersehen, wie um so mehr lieb er sie, Miß
Jefferson, hat, denn sonst hätte er Ihre Schwester doch
nicht verlassen."
„Wir wissen das aber anders, Mr. Finding," er-
wiederte Tapperday noch immer sehr streitbar, „wir
haben gehört aus Hugh Jefferson's eigenem Munde,
das; er Kitty verlassen hat, um durch eine reiche Heirath
seinen Eltern über den Bankerott hinwegzuhelfen. So
steht'S, Sir, dafür haben nur Zeugen. Wir werden's
beweisen. Haben wir Zeugen, oder haben nur keine,
Bob?"
Bob ivar nicht so muthig und kampfbereit wie sein
Freund Will. Er sah nicht recht ein, in welchem Zu
sammenhang diese ganze "Angelegenheit mit seiner Pacht
in Tewkesbury stehen sollte, und war sehr geneigt zu
glauben, das; Will eine Dummheit gemacht und sich
nutzlos um seine Stellung, um sein Brod gebracht habe.
Was sollte nun aus ihm und Kitty werden?
„Will —" sagte er in einem mehr warnenden als
ausmunternden Ton. Aber Finding unterbrach ihn und
entgegnete seinem früheren Schreiber:

„Haben Sie die Güte zu thun, was Ihnen beliebt,
Nir. Tapperday, da ich aber Herr in meinem Bureau
bin, so darf ich Sie wohl ersuchen, mich zu verlassen.
Me stören mich durch Ihre Reden in meiner Arbeit.
Wollen Sie einen Prozeß gegen uns oder gegen das
Vorinundschaftsgericht oder gegen wen immer ansangen
— gut! Bringen Sie Ihre Zeugen. Wir werden die
unserigen bringen. Wir werden sehen, aus wessen Seite
das Recht ist. Mr. Tapperday, ich hoffe, Sie haben
in meinem Bureau etwas gelernt, wenn Sie also einen
Gang mit mir riskiren wollen, so thun Sie es — wenn
Me Geld haben. Sonst rathe ich es Ihnen nicht. Sie
wissen ja, was in England Prozesse kosten. Und nun,
mein werther Mr, Adieu. Es wird mir schmerzlich
sein, Sie nicht wieder zu sehen, aber ich werde mich in
mein Schicksal finden. Nein, bitte, sagen Sie nichts
mehr. Sie wissen ja, wo die Thür ist. Adieu. Adieu."
In ziemlich gedrückter Stimmung traten die beiden
Freunde auf die Straße. Es war schlechtes Wetter.
Ein dicker Nebel, der über der Stadt lag, begann sich
eben in einen feinen, kalten Regen auf,zulösen. Bob
spannte einen großen baumwollenen Schirin aus, unter
dem sie zur Noth Beide Platz hatten.
„Bob," sagte Tapperday endlich mit einer Stimme,
der man es anhörte, das; er nur mit Mühe die Thrä-
nen unterdrückte, „Bob, ich sage Dir, es geht scheuß-
lich in der Welt her. Erst waren wir dran. Sie haben
uns ausgeputzt und ausgeputzt, bis wir nichts mehr
hatten. Und nun haben sie erst Appetit bekommen,
nun ist sie dran."
„WaS meinst Du, Will?"
„Bob, ich weiß, wo meine Papiermühle hingegangen
ist. Ich habe es erlebt und ich weis; auch, wo West-
Hampton-Eourt und Dein Hof in Tewkesbury und alles
Andere hingehen wird. Bob, ich —"
Tapperday konnte vor Schluchzen nicht weiter sprechen.
Bob krampfte vor Wuth die Finger zusammen, als
ob er die Gurgel Mister Finding's dazwischen gehabt
hätte. Es ivar aber nur der Negenschirmstock.
„Was ist zu thun, Will?" fragte er nach einer
langen Pause.
„Ich weiß nur einen Rath," antwortete Will.
„Und der ist?"
„Wir trinken ein Glas Shrub."
„Will!!"
„Unsinu. Was Du sagst, ist Unsinn. Du willst
sagen, ich soll mir in meinem Elend nicht auch noch
das Trinken angewöhnen! Ich aber muß das Gift
hinunter spülen. Ich ersticke sonst. Es geht nicht anders.
Komm, Bob."
Damit zog er den widerstrebenden Freund in die
nächste Schänke.

8.
Zum ersten Male seit längeren Jahren erstrahlte
das Haus Simou Jefferson's am Strand in London
im festlichen Glanze. Gänge und Treppen waren in
üppiger und dabei doch geschmackvoller Weise mit Blu-
men und Sträuchern auSgeschmückt. Glühlicht in —
je nach den Tapeten — goldgrünen oder röthlichen und
gelblichen Glasbirnen schimmerte in den Salons, ga-
lonnirte Diener liefen hin und her — Simon Jefferson
hielt großen Empfang. Noch waren keine Gäste da,
denn es ivar noch früh am Abend. Noch standen die
prächtig ausstaffirten Räume leer. Nur der Haushcrr
ging mit der bei solchen Gelegenheiten eigenthümlichen
Unruhe prüfend in den Zimmern umher, um noch einen
letzten Blick aus die getroffenen Vorkehrungen zu werfen.
In einem der Zimmer traf er seine Gemahlin, die
ziemlich trübe und traurig in einem Sessel saß. Er
stutzte, als er sie so niedergeschlagen sah.
„Jane!" rief er sie an. „Was ist Dir?"
„Nichts, Simon. Ich habe nur eine so rasende
Angst, eine Angst, als ob uns Fürchterliches, Schreck-
liches bevorstünde, als ob —"
„Unsinn. WaS soll uns denn bevorstehen?"
„Und Dir ist wohl, Simon? Ganz wohl?"
„Ganz wohl! Deshalb beruhige Dich. Es müssen
gleich Gäste kommen."
Seine Gemahlin stand auf, sah ihm forschend in
die Augen und legte die Hand auf seine Schulter.
„Wirklich ganz wohl, Simon? Du hast keine Furcht?
O, verhehle mir nichts. Ich sterbe sonst vor Angst."
Er blickte unruhig und unwillig weg. „Du bist
eben wieder nervös. Was in aller Wellt soll ich Dir
denn verhehlen? Vor was soll ich denn Furcht haben?"
„Du weißt doch, waS für unangenehme Folgen
früher unsere Empfänge und unser lururiöses Leben
manchmal hatten —"
„Du siehst doch, Jane, ich schaffe immer wieder
Rath und finde immer wieder neue Hilfsquellen. Also
beruhige Dich nur und überlas; mir alles klebrige."
Die Hausglocke ertönte.
„Es kommen Gäste, Jane," fuhr Simou fort, „ich
bitte Dich, mache ein freundliches Gesicht und kümmere
Dich im klebrigen um nichts. Es genügt, wenn Eines
sich Sorgen macht." . . .
 
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