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546

Das Buch für Alle.

„Er hatte Ihre Schwester geliebt und verlassen,
um — um mich zu heirathen?"
„Nicht nur um das zu thun, soilderil um dadurch
auch seinen Vater vor den: Bankerott zu bewahren."
Jessie ließ wieder einen tiefen Seufzer hören. Er
klang, als wenn ihr jetzt erst bestätigt wurde, was sie
längst schon in der Tiefe ihres Herzens geahnt, was
sie aber nicht gewagt hatte, in Worte zu kleiden, aus
Furcht, man würde sie für mißtrauisch, für lieblos,
für — wahnsinnig halten.
Nach einer längeren Pause fuhr Tapperday fort:
„Miß Jefferson, Sie werden vielleicht glauben, ich Hütte
Ihnen all' mein Elend nur geschildert, um Sie traurig zu
machen, oder gar um Sie mildherzig gegen mich zu
stimmen, um Ihnen eine Gabe zu entlocken oder sonst
Ihre Hilfe zu erbitten. Ich erkläre, daß nichts von
alledem richtig sein würde. Ich null nichts von Ihnen
haben. Ich bin nicht der Bettler, als den man mich
Ihrer Dienerschaft geschildert hat. Aber ich wollte Sie
durch Schilderung meines Unglücks warnen vor Ihrer
Umgebung. Es ist dieselbe, die mich ausgeplündert
und elend gemacht hat. Und wenn ich auch nur ein
kleines Unglück verhüten kann, wenn ich Sie auch nur
um ein Weniges aus Ihren Jrrthümern reißen kann,
so lange es Zeit ist, so bin ich belohnt genug. — Adieu,
Miß Jefferson."
Tapperday hatte mit einein Ernst und mit einem
Nachdruck gesprochen, wie man es von dem kleinen
zappeligen Mann kaum erwartet Hütte. Jetzt wandte
er sich resolut zur Thüre, um zu gehen, da er seiner
Meinung nach feine Schuldigkeit gethan hatte.
„Mr. Tapperday!" rief ihm Jessie nach.
„Sie befehlen. Miß Jefferson?"
„Und Ihre Schwester? Und Miß Kitty Tapperday
befindet sich in London?"
„In London. In meiner Behausung."
Einen Augenblick lang starrte Jessie vor sich hin,
als wenn sie überlegte.
„Kann ich mit ihr sprechen, Mr. Tapperday?" sagte
sie dann.
„Gewiß, Miß Jefferson. Sic haben nur zu be-
fehlen. Ich bringe sie noch heute hierher, wenn Sie
wünschen."
„Nein, nein," entgegnete Jessie rasch, „das nicht.
Darf ich sie nicht besuchen?"
Tapperday blickte erstaunt auf. „Sie — meine
Schwester, Miß Jefferson?"
„Warum nicht? Sie können sich ja wohl denken,
weshalb ich sie jetzt noch nicht hier empfangen möchte.
Sie könnte hier meinem Vetter Hugh begegnen."
„Aber, Miß Jefferson, Whitel-Eourt und West-
Hampton-Eourt sind zwei verschiedene Gegenden. Sie
sind verschieden wie Himmel und Erde. Was wollen
Sie, eine Dame, in Whitel-Eourt? Dort wohnen keine
Millionüre, wie in der Eity."
„Mein Gott, aber doch auch Menschen."
„Menschen? Das freilich. Aber Sie kennen augen-
scheinlich den Abstand zwischen Mensch und Mensch noch
nicht."
„Ein Grund mehr, Sie zu besuchen."
„Wie Sie wollen, Miß Jefferson," antworteteTappcr-
day nach einer Pause. „Ich bin bereit, Sie nach Whitel-
Eourt zu führen."
„So kommen Sie, Mr. Tapperday."
„Jetzt?" fragte dieser überrascht.
„Sofort/'
„Wie Sie befehlen, Miß."
Miß Jefferson stand auf. Mit einer kurzen, ent-
schlossenen Schärfe, wie sie Mary Wimpleton noch nie
von ihr gehört hatte, sagte sie: „Mary! Man soll
sofort anspannen. Hörst Du? Geh', ich will sofort
nach London."

10.
Es war in der Dämmerung, wenn man an solchen
regnerischen, nebligen Tagen überhaupt von einer Dämme-
rung reden konnte. Es dämmerte ja eigentlich den
ganzen Tag über bereits. Und namentlich in White-
chapel, diesem Labyrinth von Winkeln, Gäßchen, Straßen
und Höfen war die Atmosphäre eine so dicke, klebrige
und graue, daß man jeden Hund bedauerte, der darin
athmen mußte, um wieviel mehr die Menschen. —
Aber die Gewohnheit, du lieber Himmel, was thut die
Gewohnheit nicht Alles!
In Withel-Court stand eine blasse, kränkliche, vor
der Zeit gealterte Frau nut einem Kind aus dem Arm
furchtsam und zitternd vor dem Eingang in den feuchten
Raum, im Souterrain, der ihr und ihrer Familie zur
Wohnung diente. Aus der Wohnung selbst scholl die
rohe, brutale Stimme eines offenbar total betrunkenen
Mannes: „Kommst Du gleich 'rein, Du verwünschtes
Weib?"
Eine Menge Neugieriger aus dem ganzen Hof
Hatteil sich vor der kleinen Wohnung gesammelt. Einige
halluvüchsige Jungen von acht bis zehn Jahren kamen
eben mit leuchtenden Augen lind sich gegenseitig zu-
winkend hcrbeigesprungen.

„Nasch, rasch, Diggins ist wieder betrunken und
prügelt seine Frau," rief der Eine feinen Kameraden
zu. Für sie war die Seene offenbar ein erheiterndes
Schauspiel.
„Sei doch still, Robert," bat die blasse Frau und
beruhigte mit der Hand das kleine Kind, welches ängst-
lich zu schreien anfing. „Sei doch still. Die Leute
laufen vom ganzen Hof zusammen."
Die Frau, die früher vielleicht bessere Tage gesehen,
schämte sich offenbar für ihren betrunkenen Mann.
Plötzlich schoß der Mann, ein großer, rothhaariger
Mensch von etwa fechsundzwanzig bis achtundzwanzig
Jahren heraus, packte wüthend seine Frau am Arm
und zerrte sie in die Stube gewaltsam hinein.
„'rein, sage ich! Kannst Du nicht pariren, wenn
ich Dir 'was sage? Ich will Dir helfeil, Deinen Mann
schlecht zu machen. Bist Du nicht an unserem ganzen
Elend Schuld? Wo hast Du das Geld? Her damit.
Wo? Dll willst keiils haben? Goddam, ich will Dich
scholl behaben, daß Dir Hören und Sehen vergeht!"
Es war eine wüste, heisere Stimme, vor deren
Klang schoil gebildete Leute ein Zittern bekommen.
Dazwischen hörten die Leute vor der Wohnung dumpse
Schläge, herzbrechendes Stöhnen, endlich einen Auf-
schrei, wie aus tiefster Seele, der Schmerzensschrei
eines unter der Last seiner Qual zusammenbrechenden
Weibes.
„Mail muß zum Viertelskommissar schicken," sagte
Jemand.
Einige der Beherztereil sprangen hinein in die Keller-
wohnung, um das arme Weib aus den Klauen seines
Mannes zu retten, denn mail hörte schon an dein
Stöhnen, daß hier keine Zeit zu verlieren sei. In
der nächsten Minute bereits konnte alle Hilfe zu spät
sein. Natürlich ging das nicht ganz glatt ab. Der
Mann ivar in seiner Trunkenheit wild wie ein Stier.
Endlich brachte man die Frau aber doch heraus lind
legte sie aus den Hof nieder. Sie konnte weder gehen
noch stehen, röchelte nur leise und blutete aus einer
Wunde nm Hinterkopfe sehr bedenklich.
„Schickt zum Armenarzt. Der ist hier nothwcndiger,
als der Viertelskommissar," sagte ein Anderer.
„Jawohl, schickt zum Doktor Strehlen. Der nützt
uns mehr, als alle Viertelskommissare von ganz London.
Holt den Doktor Strehlen," schrie man, und einige
Weiber machten sich auf, um ihn herbeizuholen.
Nun trat der Tumultuant selbst unter die Thür
und schimpfte in den unsläthigsten Ausdrücken über
die Einmischung Fremder in seine Angelegenheiten.
Er behauptete, daß er Herr in seinen vier Pfählen sei,
und wollte endlich seine Frau wieder mit Gewalt in
die Wohnung zurückholen. Aber die Zuschauer dieser
häßlichen Seene waren so erbittert über den wüsten
Trunkenbold, daß sich rasch Einige sanden, die ihm ge-
hörig dienten, so daß er es nach einigen handfesten
Püffen und Knüffen vorzog, sofort wieder im Innern
des Hauses zu verschwinden.
„Wer ist es denn?" fragte Jemand.
„Er wohnt schon drei Wochen im Hof und hat
noch keinen Penny Miethe bezahlt. Er heißt Dig-
gins, Kornelius Diggins. Morgen werden sie 'raus-
gesetzt."
„Was treibt denn der Mann den ganzen Tag?"
„Er ist Sänger. Er singt in den Mntrosenkneipcn
am Hafen unten schottische und irische Lieder."
„Ah, er ist also ein Künstler," sagte Jemand.
„Ein Lump," sagte ein Anderer.
Doktor Strehlen kam. Er hatte als Distriktsarzt
auch die Armenpraris in Whitel-Eourt, war auf dem
ganzen Hof bekannt und verehrt. Gewiß zwei Dritteln
seiner Einwohner war er schon eine rettende Vorsehung
gewesen aus dem mancherlei Jammer, der die Leute
in solchem Zustand betraf. Daß der Doktor hier für
seine Bemühungen je eine Bezahlung erhalten oder-
angenommen hätte, gehörte zu den Märchen, die Nie-
mand glaubte. Im Gegentheil wußten Alle Beispiele
zu erzählen, wo der edle Menschenfreund mit seiner
eigenen Börse der rettende Engel so mancher in's Un-
glück gerathener Familie geworden war.
Der junge Armenarzt kniete bei der schwerverwun-
deten Frau nieder, um sie zu untersuchen. Es war ein
Jammer. Ohne Unterlage, im Regen, im schlüpfrigen
Schmutz des Hofes lag sie da, und der tadellos, fast
aristokratisch gekleidete Arzt kniete bei ihr — im Schmutz.
Ein Wagen rasselte draußen heran. Wenn eine Equi-
page hier an und für sich schon Aufsehen erregte, so
mußte dieses Fahrzeug ganz besonderen Eindruck machen.
Zwei betreßte Diener faßen auf dem Bock, und die
vorgespannten Pferde waren, wie auch dem Laien ein-
leuchtete, edle und kostbare Thiere.
Alis dem Wagen stiegen zwei Damen und ein Herr,
und dieser Herr war der hier wohlbekannte Tapperday,
was die.Aufregung der Hofbevölkerung noch steigerte.
Nur Doktor Strehlen merkte nichts davon, da er noch
immer neben der bewußtlosen Frau kniete.
„Miß Jefferson," sagte Tapperday mit bedauernder
Miene, „ich habe es Ihnen gleich gesagt, daß Whitel-
Eourt voll Westhampton-Eourt verschieden ist, sehr, sehr

Ljrll LU.
verschieden. Aber Sie wollten cS durchaus wagen, nun,
und da siild wir."
„O, mein Gott," sagte Mrs. Wimpleton und nahm
ihr Kleid vorsichtig hoch, „was ist denn dort passirt?
Ist die Frau todt?"
Miß Jessie schritt gerade an der Gruppe vorbei,
die um die kranke Frau herum stand. Sie war tief
verschleiert.
Plötzlich blieb sie wie angewurzelt stehen. Sie hatte
deil Arzt erkannt.
„Wenn Sie befehlen, Miß Jefferson, so gehen wir
weiter," sagte Tapperday wieder, der wohl meinen
mochte, seine Begleiterin sähe sich aus Neugier die
halbtodte Frau all. „Das siild solche Vorfälle," fuhr
er fort, „wie sie in Whitel-Eourt leider nicht zu den
Seltenheiten gehören."
„Herr Doktor Strehlen," murmelte Miß Jessie leise
und überrascht. Aber so leise es auch sein mochte, der
Arzt hatte es doch gehört. Eine flüchtige Röthe überzog
sein feines Gesicht, und seine Augen blickten rasch und
erstaunt empor.
„Siild Sie es, Miß Jefferson, oder sind Sie
es nicht?" fragte er wie beiläufig, jedenfalls ohne sich
in seiner Beschäftigung stören zu lassen.
„Muß ich Sie hier wieder sehen, Herr Doktor?"
„Warum nicht, Miß? Hier können Sie mich manch-
mal mehrere Male an einem Tage sehen. Ich bin hier
der Armenarzt."
„Und in Westhampton-Eourt sieht man Sie so selten?"
„Sie haben mich nicht rufen lassen, Miß. Und Sie
sehen, daß ein Arzt in London mehr zu thun hat.
als bei jungen, verwöhnten Damen zu antichambriren."
Jessie war weit entfernt, es übel zu nehmen, sich voll
Strehlen als eine „verwöhnte" Dame bezeichnet zu hören.
Sie schwieg einen Augenblick sinnend still. Das also
war der Arzt, dem es, wie ihr Onkel gesagt hatte, nur
um ihre Pfunde zu thun gewesen war. Strehlen und
ihr Onkel Simon, der seinen Sohn veranlaßte, sie zu
heiratheil, my sich dadurch vor dem Bankerott zu
schützen — welch' ein Abstand! Erst nach einer langen
Pause sagte sie wieder, um nur irgend etwas zu sagen:
„Kann ich für die arme Frau etwas thun, Herr Doktor?"
Der Nothverband, den Strehlen umgelegt hatte,
war jetzt fertig, und der Arzt stand auf. Seine Kleidung
war übel zugerichtet, schmutzig und blutig.
„Miß Jefferson," sagte er mit wehmüthigem Lächeln,
„hier kann man immer etwas thun, das weiß ich aus
eigeiler Erfahrung, klnd wenn ich einmal bei den
reichen Leuten im Westend eine etwas gepfefferte Rech-
nung mache, so kommt es zum guten Theil Whitel-
Eourt und meinem Distrikt wieder zugut. Wenn Sie
aber für die arme Frau wöchentlich ein Pfund bezahlen
wollen, so kann ich ihr im Distriktshospital Unterkunft
verschaffen. Sie ist eine gute Frau. Ich kenne sie.
Ihre Wohlthat fällt auf eine Unglückliche, aber auch
aus eine Würdige. Sie wird es Ihnen danken."
Jessie suchte etwas verlegen in ihren Taschen. Sie
hatte keinen Penny bei sich.
„Mary, hast Du Geld? Gib es dein Herrn Doktor,"
sagte sie dann roth werdend — sie wußte selbst nicht
warum.
„Das ist nicht nöthig, Miß," sagte der Doktor-
lächelnd. „Die Hospitalverwaltung schickt Ihnen die
Rechnung und damit ist die Sache gut. Sie laufen
uns ja nicht davoil."
„Dars ich Ihnen meinen Wagen zum Transport
der Kranken anbieten, Herr Doktor?"
Strehlen sah überrascht auf. „Und Sie, Miß Jeffer-
son?" fragte er.
VQ ich -"
„Nein, nein! Bei diesem Sudelwetter? O nein.
Eine Miethklitsche thut's hier auch. Aber ich danke
Ihnen gleichwohl für Ihr edelmüthiges Anerbieten.
Doch Sie werden mich entschuldigen müssen. Sie sehen,
mein Beruf duldet wenig Galanterie."
„Ich bitte Sie, sich nicht stören zu lassen. Und
wann darf ich Sie in Westhampton-Eourt erwarten?"
„Sobald Sie befehlen."
„Also morgen?"
„Eilt es so?"
Ihre Allgeil trafen sich einen Moment, dann schlug
Jessie die ihren wieoer nieder und flüsterte leise: „Ja!"
„Also morgen!" erwiederte er lind wandte sich rasch
grüßend seiner Kranken wieder zu, während Miß Jefferson
mit Mary Wimpleton und Tapperday weiter ging.
Der Hof machte gerade hellte einen besonders wider-
wärtigen Eindruck, llild als Miß Jefferson endlich die
Treppen hinaufstieg, die zu Tapperday'S Wohnung
führten — Treppen, auf dellen Tag aus Tag ein
etwa dreihundert große und kleine schmutzige Füße hin
lind her gingen, staunte sie denn doch, wie sehr ver-
schieden Whitel-Eourt und Westhampton-Eourt war.
Tapperday hatte wohl Recht gehabt, als er Bedenken
trug, sie hierher zu führen. Nicht als ob Jessie bereut
hätte, hierher gegangen zu sein! O, im Gegentheil.
Nur trat sie hier in eine Welt, die ihr vollständig
fremd, voll deren Eristenz sie nie eine Ahnung gehabt
hatte. Und während sich Mary Wimpleton darauf
 
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