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Das Buch f ü r A l l e.
Heft 24.
„Gewiß! Ich ginge dann zum Justizrath Koch, der
dieselben kennt, und würde als Nachbar und Freund
der Damen —"
„Na, na!" konnte Hilde trotz aller Besorgnis; sich
nicht enthalten, auszurusen.
„Bin ich auch, besonders da —" hier hätte sich
Rudolph beinahe verschnappt — „da cMe, Fräulein
Hilde, nut meiner Mutter so befreundet sind."
„Das liebe Kind!" rief Mutter Schulze.
„Ich muß mich besinnen, wie wir das anstellen,"
sagte Hilde, „und nun Adieu! Morgen komme ich
offiziell."
„Ich werde Sie hinüberbringcn, Fräulein Hilde."
„Ei bewahre, ach muß ja förmlich schleichen. Sehen
Sie, wie Peter — ganz leise."
Ganz leise verhandelten denn auch Hilde und Rudolph
wieder einige Augenblicke auf dem Hausflur, bis Hilde
flüsterte: „Jetzt ist's genug, Rudolph!"
Was da nur wieder genug war?!
Die Hosthüre machte ihrer Meisterin alle Ehre, sie
knarrte nicht. Die Bank unter dem Fenster that auch
ihre Pflicht, und Hilde war in ihrem Zimmer, ohne
daß Jemand ihre Abwesenheit bemerkt hätte.
Am nächsten Morgen war Hilde wie ausgetauscht.
Schon in der Frühe hörten: die Tanten: sie Klavier
spielen — nur Etüden und den: Schrecken: aller Schrecken:
— Tonleitern und Fingerübungen. Nach den: Kaffee,
bei dem sie beide Tanten aufs Zärtlichste begrüßt hatte,
kau: sie zu Elisabeth und bat sie, ihr eine Stelle in
Bulwer's „Eugen Aran:" zu erklären, ja sie fand nicht
einmal ein Wort des Widerspruchs, als Tante Josephine
sagte:
„Eugen Aram? Das ist nichts für junge Mädchen!"
Nachdem Hilde an zwei Stunden Englisch getrieben
hatte, stand sie mit einen: Seufzer der Erleichterung
auf; anstatt aber in den Garten oder zu Schulzes
hinüber zu gehen, kau: sie nut einen: ganzen Stoß illu-
strirter Zeitungen wieder und begann dieselben eifrig
zu durchstöbern; plötzlich rief sie:
„Nun kann ich die Nummer, in welcher der Un-
finn steht, nicht wiederfindcn!"
„Was denn für Unsinn, liebes Kind?" fragte Tante
Josephine sehr gnädig.
„Ach, da schreiben sie, daß sie aus je einen: Vers
aus den verschiedenen Lieblingsgedichten eines Menschen
und aus seiner Namensunterschrift feinen Charakter ganz
genau feststellen können; das ist Ünal wieder eine neue
Variaüon der Graphologie."
„Dazu sollten doch die Gedichte genügen," meinte
Tante Elisabeth.
„Nein, die Redaktion sagt, das untre nur einseitig;
erst beides zusammen gäbe das richtige Bild. Ich
Kurfürst Friedrich III. von Vrandcnbnrg (König
Friedrich I. von Preichen), der Gründer der
Universität Halle. (S. 582)
glaube aber nicht daran!" sagte Hilde scheinbar gleich-
giltig; sie kannte ihre Tante Josephine.
Diese fiel auch gleich darauf hinein. „Ich halte
die Sache für gar nicht uneben; inan konnte es
ja versuchet:! Wird dein: der ganze Name veröffent-
licht?"
Anstatt ivie sonst Opposition zu machen, sagte
Hildchen: „Wem: Du meinst, liebe Tante. Der Name
bleibt verborgen, soweit ich mich erinnere — die Re-
daktion gibt nur die Anfangsbuchstabei: und den Ort
in ihrer Antwort an."
„Ich halte es zwar auch für Unsinn, aber es könnte
doch dieses oder jenes in der Antwort stehen, was uns
zum Nachdenken über uns selbst und unsere Fehler an-
regte," erklärte Tante Elisabeth. „Aber die Gedichte
abschreiben, das ist langweilig!"
„Das muß ich ohnehin besorgen," entgegnete Hilde,
die heute geradezu engelhaft war. „Die Handschrift soll
ja eine andere sein, als die der Unterschrift; ich nehme
einen großen Briefbogen, ihr fetzt nur eure Unter-
schriften an den unteren Rand und gebt mir die Verse
an, die ich eintragen soll."
Hilde lief in's Haus, holte den Bogen, die Tanten
setzten ihre Unterschrift an die Stellen, die Hilde be-
zeichnete, und Elisabeth fragte nur: „Und Du, Hilde?"
„Laß nur, Elisabeth," sagte Tante Josephine. „Das
ist nichts für junge Mädchen!"
Wieder kein Wort des Widerspruchs von Seiten
Hilde's. Was war nur in das Kind gefahren? Es
war wirklich unheimlich.
„Jetzt schreibt mir nur die Ansangsstrophen der
Verse auf, aber jede nur so viel, als auf die halbe Seite
geht — ich vervollständige sie dann, schreibe Alles ab
und expedire das Schreiben; ihr habt euch um nichts
mehr zu kümmern."
Darauf nahm sie den kostbaren Bogen sorgfältig
zwischen zwei Finger und brachte ihn wieder in's Haus.
„Es ist doch ein gutes Kind, unsere Hilde!" sagte
Tante Josephine. „Wahrscheinlich bereut sie ihr gestriges
Benehmen — ich werde den Doktor Knebler nächster
Tage zum Kaffee einladen."
„Das würde ich an Deiner Stelle nicht thun, Jo-
sephine; ich zerbreche nur ohnehin schon den Kopf dar-
über, was Hilde eigentlich im Schilde führt; da steckt
etwas dahinter!" meinte die weltkluge Schwester.
„Bei Schulzes ist sie heute auch noch nicht gewesen;
das bedeutet etwas!" fuhr Josephine fort, sich zu
wundern.
„Aber da geht sie eben hin, also laß das Orakeln!"
entgegnete Elisabeth.
Was aber Hilde mit hinüber genommen hatte, ahnte
auch die kluge Elisabeth nicht — ebensowenig, daß gerade
in den: Augenblick Rudolph bereits den bewußten Bogen
vor sich hatte und darauf nut großen Zügen schrieb:
„Voll in acht.
Wir, die Endesunterzeichneten Josephine Selbold
und Elisabeth Selbold bevollmächtigen hierdurch den
Aas Nniversilälsgeöände in Kalke a. S. Nach einer Photographie von Th. Molsberger in Halle a. S. (2. 5d2)
Das Buch f ü r A l l e.
Heft 24.
„Gewiß! Ich ginge dann zum Justizrath Koch, der
dieselben kennt, und würde als Nachbar und Freund
der Damen —"
„Na, na!" konnte Hilde trotz aller Besorgnis; sich
nicht enthalten, auszurusen.
„Bin ich auch, besonders da —" hier hätte sich
Rudolph beinahe verschnappt — „da cMe, Fräulein
Hilde, nut meiner Mutter so befreundet sind."
„Das liebe Kind!" rief Mutter Schulze.
„Ich muß mich besinnen, wie wir das anstellen,"
sagte Hilde, „und nun Adieu! Morgen komme ich
offiziell."
„Ich werde Sie hinüberbringcn, Fräulein Hilde."
„Ei bewahre, ach muß ja förmlich schleichen. Sehen
Sie, wie Peter — ganz leise."
Ganz leise verhandelten denn auch Hilde und Rudolph
wieder einige Augenblicke auf dem Hausflur, bis Hilde
flüsterte: „Jetzt ist's genug, Rudolph!"
Was da nur wieder genug war?!
Die Hosthüre machte ihrer Meisterin alle Ehre, sie
knarrte nicht. Die Bank unter dem Fenster that auch
ihre Pflicht, und Hilde war in ihrem Zimmer, ohne
daß Jemand ihre Abwesenheit bemerkt hätte.
Am nächsten Morgen war Hilde wie ausgetauscht.
Schon in der Frühe hörten: die Tanten: sie Klavier
spielen — nur Etüden und den: Schrecken: aller Schrecken:
— Tonleitern und Fingerübungen. Nach den: Kaffee,
bei dem sie beide Tanten aufs Zärtlichste begrüßt hatte,
kau: sie zu Elisabeth und bat sie, ihr eine Stelle in
Bulwer's „Eugen Aran:" zu erklären, ja sie fand nicht
einmal ein Wort des Widerspruchs, als Tante Josephine
sagte:
„Eugen Aram? Das ist nichts für junge Mädchen!"
Nachdem Hilde an zwei Stunden Englisch getrieben
hatte, stand sie mit einen: Seufzer der Erleichterung
auf; anstatt aber in den Garten oder zu Schulzes
hinüber zu gehen, kau: sie nut einen: ganzen Stoß illu-
strirter Zeitungen wieder und begann dieselben eifrig
zu durchstöbern; plötzlich rief sie:
„Nun kann ich die Nummer, in welcher der Un-
finn steht, nicht wiederfindcn!"
„Was denn für Unsinn, liebes Kind?" fragte Tante
Josephine sehr gnädig.
„Ach, da schreiben sie, daß sie aus je einen: Vers
aus den verschiedenen Lieblingsgedichten eines Menschen
und aus seiner Namensunterschrift feinen Charakter ganz
genau feststellen können; das ist Ünal wieder eine neue
Variaüon der Graphologie."
„Dazu sollten doch die Gedichte genügen," meinte
Tante Elisabeth.
„Nein, die Redaktion sagt, das untre nur einseitig;
erst beides zusammen gäbe das richtige Bild. Ich
Kurfürst Friedrich III. von Vrandcnbnrg (König
Friedrich I. von Preichen), der Gründer der
Universität Halle. (S. 582)
glaube aber nicht daran!" sagte Hilde scheinbar gleich-
giltig; sie kannte ihre Tante Josephine.
Diese fiel auch gleich darauf hinein. „Ich halte
die Sache für gar nicht uneben; inan konnte es
ja versuchet:! Wird dein: der ganze Name veröffent-
licht?"
Anstatt ivie sonst Opposition zu machen, sagte
Hildchen: „Wem: Du meinst, liebe Tante. Der Name
bleibt verborgen, soweit ich mich erinnere — die Re-
daktion gibt nur die Anfangsbuchstabei: und den Ort
in ihrer Antwort an."
„Ich halte es zwar auch für Unsinn, aber es könnte
doch dieses oder jenes in der Antwort stehen, was uns
zum Nachdenken über uns selbst und unsere Fehler an-
regte," erklärte Tante Elisabeth. „Aber die Gedichte
abschreiben, das ist langweilig!"
„Das muß ich ohnehin besorgen," entgegnete Hilde,
die heute geradezu engelhaft war. „Die Handschrift soll
ja eine andere sein, als die der Unterschrift; ich nehme
einen großen Briefbogen, ihr fetzt nur eure Unter-
schriften an den unteren Rand und gebt mir die Verse
an, die ich eintragen soll."
Hilde lief in's Haus, holte den Bogen, die Tanten
setzten ihre Unterschrift an die Stellen, die Hilde be-
zeichnete, und Elisabeth fragte nur: „Und Du, Hilde?"
„Laß nur, Elisabeth," sagte Tante Josephine. „Das
ist nichts für junge Mädchen!"
Wieder kein Wort des Widerspruchs von Seiten
Hilde's. Was war nur in das Kind gefahren? Es
war wirklich unheimlich.
„Jetzt schreibt mir nur die Ansangsstrophen der
Verse auf, aber jede nur so viel, als auf die halbe Seite
geht — ich vervollständige sie dann, schreibe Alles ab
und expedire das Schreiben; ihr habt euch um nichts
mehr zu kümmern."
Darauf nahm sie den kostbaren Bogen sorgfältig
zwischen zwei Finger und brachte ihn wieder in's Haus.
„Es ist doch ein gutes Kind, unsere Hilde!" sagte
Tante Josephine. „Wahrscheinlich bereut sie ihr gestriges
Benehmen — ich werde den Doktor Knebler nächster
Tage zum Kaffee einladen."
„Das würde ich an Deiner Stelle nicht thun, Jo-
sephine; ich zerbreche nur ohnehin schon den Kopf dar-
über, was Hilde eigentlich im Schilde führt; da steckt
etwas dahinter!" meinte die weltkluge Schwester.
„Bei Schulzes ist sie heute auch noch nicht gewesen;
das bedeutet etwas!" fuhr Josephine fort, sich zu
wundern.
„Aber da geht sie eben hin, also laß das Orakeln!"
entgegnete Elisabeth.
Was aber Hilde mit hinüber genommen hatte, ahnte
auch die kluge Elisabeth nicht — ebensowenig, daß gerade
in den: Augenblick Rudolph bereits den bewußten Bogen
vor sich hatte und darauf nut großen Zügen schrieb:
„Voll in acht.
Wir, die Endesunterzeichneten Josephine Selbold
und Elisabeth Selbold bevollmächtigen hierdurch den
Aas Nniversilälsgeöände in Kalke a. S. Nach einer Photographie von Th. Molsberger in Halle a. S. (2. 5d2)