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594

Das V u ch f ü r N l l e.

M 25.

Wenn Du erst älter bist, wenn sich Deine Ideale erst
in Schanin und Dunst aufgelöst haben werden, wirst
Du mir Recht geben. Aber lassen wir alle diese Neben-
sachen jetzt bei Seite und kommen wir auf die Haupt-
sache, Jessie, auf Deine Gesundheit —"
' „Ja, Onkel."
„Du mußt wissen, daß diese meine größte ^orge
ist. Ich wollte vorhin, wie ich Dein kleines Sünden-
register zusammenstellte, nur deutlich machen, wie wenig
konsequent Du in Deinen Ideen und infolge dessen
in Deinem Handeln bist. Ich bin gewiß der Letzte, der
Dir einen Borwurf daraus macht, denn ich weiß, wo
es fehlt, ich weiß, daß Tu leidend bist."
„Nun, mit der Zeit, Onkel, hoffe ich doch auf Besse-
ruug."
„Potztausend, natürlich. Das hofft ein Jeder.
Damit aber diese Hoffnung nicht getäuscht werde, muß
man ernstlich und ohne Launenhaftigkeit an Deine
Heilung denken. Du siehst, wie weuig Fortschritte
Deine Gesundheit in der letzten Zeit gemacht hat, ich
möchte sie fast Rückschritte nennen."
„Es wird sich schon machen, Onkel."
„Davon bin ich überzeugt, nicht aber davon, daß
Doktor Strehlen die richtige Methode bei Dir angeschlagen
hat. Und deshalb habe ich heute einen anderen Arzt
mitgebracht, den Doktor Nathaniel Cummins von Halfsea-
Castle, einen der tüchtigsten Nervenärzte Englands. Er
ist unten, und ich bitte Dich, Jessie, ihn zu empfangen
und mit ihm zu redeu. Was weiter zu geschehen hat,
wird man ja dann besprechen."
Jessie war wirklich krank und sie fühlte das auch
sehr wohl. Welcher Kranke aber greift nicht nach Heilung,
wenn und wo immer sie sich bietet?
So ließ sie also Doktor Nathaniel Cummins vun
Halfsea-Castle zum Lunch einladen und versprach ihrem
Onkel, mit dein Arzt zu sprechen.
Als die Unterredring so weit gediehen war, athmete
Simon erleichtert auf und erhob sich. Er wollte sich
zurückziehen, um, wie er sagte, noch vor dein Frühstück
eiirige nothwendige Schriftstücke aufzusetzen, und ver-
abschiedete sich deshalb vun seiner Nichte.
Doktor Strehlen war freilich nicht der Mann, der
sich von allerhand Aeußerlichkeiten und schmeichlerischen
Manieren täuschen ließ. Er hatte in der Welt gelernt, sich
feinen Mann genau anzuseheu und hatte infolge dessen
wohl eine ungefähre Idee von dem, was hier vorging.
Gleichwohl war feine Stellung eine äußerst schwierige.
Er hatte herzliches Mitleid mit seiner Patientin, aber
seine einzige Berechtigung, sich in ihre Angelegenheiten
zu mischen, war die des Arztes, und reichte nicht weit.
Wenn er hin rind wieder sich einmal hinreißen ließ,
gleichsam einem inneren Drange folgend, darüber hinaus
zu gehen, so hatte er das in der Folge immer als eine
große Unvorsichtigkeit zu bereueu. Seine Gegner nutzten
das regelmäßig aus, indem sie ihn verdächtigten, als
ob er unerlaubte Ziele verfolge, als ob es ihm weniger
um das Wohlergehen Miß Jeffersun's, als vielmehr
darum zu thun wäre, selbst Herr iu Westhamptou-Court
zu werden.
Nichts konnte sowohl feiner Gewissenhaftigkeit und
Lauterkeit, wie auch dem Rufe des nicht nur seiner
Armenpraxis mit wahrer Menschenfreundlichkeit ob-
liegenden, sondern auch in guten Kreisen vielbeschäftigten
Arztes unangenehmer und widerlicher sein, als solche
Verdächtigungen. Es ging um seine Ehre nicht nur,
sondern auch um seine Praxis. Und dabei traten diese
Verdächtigungen auf wie Nebel am Abend. Man wußte
nicht, woher sie kamen und wie sie kamen; nirgends
waren sie zu fassen. Wenn man sich ihm gegenübergestellt
hätte, Mann gegen Mann, das wäre etwas Anderes ge-
wiesen. Dann hätte inan bald wissen sollen, was Doktor
Helmuth Strehlen war. Aber immer nur Redensarten,
Verbeugungen, Höflichkeiten — nirgends ein gerades
Wort — was ivar da zu machen?
Wäre er seiner Sache sicher gewesen, hätte er ge-
wußt, daß Jessie ihn liebte, wie er sie liebte, so hätte
er wohl auch gewußt, was zu machen war; aber so
glaubte er nicht aus einer gewissen Reserve, deren Grenzen
ihm Ehre und Beruf zogen, heraustreten zu dürfen.
Er glaubte schon ein klebriges gethan zu haben, daß
er bis zum Essen auf dem Gute blieb, aber er that
das, weil er wissen wollte, worauf denn die Herren nun
eigentlich abzielten.
Die Vorstellung des Doktor Cummins, kurz vor
Tisch, erfolgte in hergebrachter Weise. Jessie benahm
sich dabei sehr kalt, sehr höflich, sehr vornehm, wie das
ihre Manier fremden Leuten gegenüber überhaupt war.
Doktor Cummins that sehr gelehrt, sehr praktisch und
sprach sehr viel. Sein Prospekt über die herrliche Luft
uud Lage voll Halfsea-Castle, den er natürlich auswendig
konnte, mußte wieder sehr herhalten, und er erreichte
denn auch, daß sich die Zuhörer die Lage von Halfsea-
Castle als eine paradiesische vorstellten.
„Sie glauben nicht," plauderee Doktor Commins
gemüthlich, „was ich bei nervös angegriffenen und er-
regten Personen in Halfsea-Castle oft schon nach einem
Aufenthalt vun wenig Wochen für überraschende Erfulge

erzielt habe. Auch die empfindlichsten, rebellischsten
Nerven beruhigen sich in der dortigen herrlichen Einöde."
„Wo liegt Halfsea-Castle, Sir?" fragte Miß Jessie.
„stn Süd-Schottland, genau drei und eine halbe
Meile vun Greetuwn, an der Wigtuwnbai. O, eine
herrliche Lage, wie geschaffen vun der gütigen Natur
zur Gesundheit kranker, überreizter Nerven."
„Ich würde Dir anrathen, das Sanatorium des
Doktor Cummins einmal anzusehen, Jessie," sagte Simon
Jefferson, „und wäre es auch nur zur Beruhigung Deiner
Angehörigen. Es wäre doch unverantwortlich, wenn
man eine derartige vorzügliche Heilanstalt so nahe hat
und unbeachtet läßt. Ein Versuch schadet in sulchen
Fällen nie."
„Was sagen Sie dazu, Duktor Strehlen?" fragte
Jessie wieder, genau in demselben Tun und in dem-
selben Silbenfall, wie sie mit Doktor Commins sprach.
„Wenn Me einen Versuch machen wollen, Miß
Jefferson, so läßt sich meines Erachtens dagegen ver-
nünftigerweise nichts sagen. Ich kenne Schottland zu
wenig und insbesondere Halfsea-Castle kenne ich gar
nicht. Ich kann und will also nicht entscheiden, ob
es Ihnen nützen kann. Entscheiden Sie darüber selbst."
„Dazu müßte man es kennen," erwiederte Miß Jessie.
„Ich würde es mir zu einer außerordentlichen Ehre
schätzen," meinte Doktor Commins rasch, „Sie, so lange
es Ihnen beliebt, bei mir zu beherbergen, sei es selbst
nur auf einige Stunden, oder auf Tage, Wochen oder
Monate. Einen Erfolg glaube ich nach den bisher ge-
machten Erfahrungen in fast sichere Aussicht stellen zu
könuen."
Jessie überlegte. Doktor Cummins sah Jefferson
erwartungsvoll an.
„Wann reifen Sie wieder zurück, Herr Duktor?"
fragte Simon.
„Ich kann schon morgen, kann aber auch erst über-
morgen oder nächste Woche fahren, je nachdem."
„Es würde natürlich nicht angehen," fuhr Simon
fort, „daß meine Nichte allein in Ihrer Begleitung
reist, und wenn Sie sonst Lust hat, sich die Sache an-
zusehen, so will ich sehen, daß ich mich für Ende der
Woche auf einige Tage frei machen kann. Ich würde
dann der größeren Sicherheit halber mitfahren. Was
meinst Du dazu, Jessie?"
„Ich null mir gern Halfsea-Castle einmal ansehen,"
antwortete Jessie endlich. „Ansehen!" betonte sie dann
noch einmal schärfer, um ja kein Mißverständnis; auf-
kommen zu lassem „Das klebrige wird sich ja daun
finden."
„Natürlich, natürlich," bekräftigte Doktor Cummins
eifrig, „und wann befehlen Sie zu reisen?"
„Was meinst Du, Onkel?"
„Hm! Etwa morgen Abend oder übermorgen früh."
„Gut. Lassen nur es bei morgen Abend."
Einmal entschlossen, wäre Jessie am liebsten sofort
abgereist. Wie alle Kranken, meinte sie der in Aus-
sicht gestellten Heilung nicht rasch genug habhaft werden
zu können.

14.
Vor dein Newgategefängniß in Old Bailey standen,
wie fast immer, eine Anzahl Leute, deueu es Spaß
machte, zuzusehen, wie die im Lause der Nacht hier
und da aufgelesenen dnnkeln Gestalten oder verhafteten
Verbrecher abgeliefert werden, oder die Ankunft von
„Ihrer Majestät Staatswagen", wie das Volk von Lon-
don dieGefangenen-Transportivagen nennt, abzuwarten.
Zwischen elf und zwölf Uhr Vormittags kam endlich
auch einer von „Ihrer Majestät Staatswagen" und
zwar hielt dieser nicht, wie gewöhnlich, vor den: niedrigen
Eingang zum Newgategefängniß, sondern fuhr noch
einige hundert Schritt weiter nach Old Bailey, wo der
Eingang in die Gerichtshöfe sich befand.
„Das sind ,schwere Jungend sie kommen nach Old
Bailey," rief Einer aus der Meuge und sofort fetzte
sich der ganze Troß in Trab, um dem Wagen zu folgen.
„Sind es Diebe? Sind es Mörder?" fragte man
sich gegenseitig, und Andere antworteten: „Vielleicht
beides."
Endlich hielt der Wagen und auS demselben stiegen
unter den Bemerkungen der Umstehenden der Schreiber
Jones, Niggs und Bob Dryful. Sic waren mit Hand-
schellen aneinander gefesselt, so daß Junes, als er den
Wagentritt herunter stieg, mit erhobenem Arm unten
warten mußte, bis fein Kettengenosse nachkam.
Zuletzt stieg der gute, ehrliche Bob aus. Er wagte
nicht, den Blick zu heben, um irgend Jemand anzusehen,
wischte sich mit dein einen noch freien Aermel hin und
wieder die Thränen aus den Augen und schluchzte
heimlich und verstohlen auf. Wenn seine Mutter ihn
so gesehen hätte! Allmächtiger Gott, die wäre auf der
Stelle gestorben. So rasch eS ging, suchte er sich den
Blicken der umherstehenden Neugierigen zu entziehen
und hinter dem schweren, eisenbeschlagenen Thor, das
ihn: gemacht zu sein schien, nur alle Welt hinein und
Niemand wieder herauSzulassen, zu verschwinden.
Im Innern wurde der Transport von einem Mann

in einem langen, bis über die Kniee reichenden schwarzen
Ruck und hohen Stiefeln empfangen. Ihr Begleiter
gab dem Mann einige Papiere, worauf dieser dann
sagte: „In Sachen Finding! Gut. "Numero 192, Sir."
"Nun ging die Reise weiter, Trepp' auf, Trepp' ab,
über Säle und Korridore, wo einzelne Polizisten standen,
die alle an den drei Gefangenen ein großes Interesse
zu haben und nur darauf zu warten schienen, daß einer
von ihnen einen Fluchtversuch machte.
Endlich standen sie vor Numero 192. Als sie ein-
traten, sagte ein Beamter, der hinter einem Holzgirter
au einem Pulte saß: „Da sind sie!"
Nu>r ja, da standen sie, elend niedergedrückt, auf
dem Wege in's Gefängniß, in's Zuchthaus oder zum
Galgen. Gott allein wußte, was sie für Aussichten
hatten, aber schön waren sie nicht. Sie waren aus den
Betten geholt worden, die ganze Nacht hin und her
geschickt, verhört und prutokollirt wurden — nun waren
sie also da, in dem trockenen, staubigen Aktenlokal nut
den weißgetünchten Wänden und dem stark vergitterten
Fenster.
„Hm!" machte ein anderer Mann, den Bob bisher
noch nicht gesehen hatte. Es mar ein Mann mit einein
steifen weißen Halstuch, schwarzem gewöhnlichem Anzug
und weißen Zwirnhandschuhen. Er hatte kleine, be-
wegliche, schlaue Augen von unbestimmter Farbe, röth-
liche Haare und war glatt rasirt. Seinen Hut, einen
hohen schwarzen Cylinder, hatte er zwischen die Beine
auf den Boden gestellt.
„Wollen Sie mit den Leuten reden, Inspektor
Snuggs?" fragte der Mann hinter dem Holzgitter.
„Bitte, nach Ihnen, Herr Untersuchungsrichter," er-
wiederte der Mann höflich, langsam und sehr deutlich.
Es wurden nun zunächst die Personalien der drei
Verhafteten verlesen, wie sie beim ersten Verhör von
der Polizei ausgenommen worden waren. Woher, wie
alt, wer Vater und Mutter war, Gewerbe, Religion,
ob vorbestraft oder nicht, politische Zugehörigkeit, augen-
blicklicher Aufenthalt und vieles Andere war auf großen
Aktenbogen sauber ausgeschrieben worden. Ganz zuletzt
standen noch die Worte: „Leugnen alle Drei."
Dann sagte der Untersuchungsrichter streng und
drohend: „Sie wissen vermuthlich, weshalb Sie hier sind?
Sie stehen unter dem dringenden Verdacht des Raub-
mordes, begangen an dein Rechtsanwalt James Finding
in Lincolnsinn. Ich ermahne Sie, hier nur die Wahr-
heit zu sageu. Glauben Sie nicht, sich in Ihrer Lage
durch eine Lüge zu verbessern. Ganz das Gegentheil
werden Sie erreichen. — Zuerst zu Ihnen, Schreiber
Jones."
„Erlauben Sie, Herr Untersuchungsrichter?" sagte
Mr. Snuggs.
„Bitte, Herr Inspektor."
„Ich wünschte, daß Sie die drei Verhafteten feparirt
vernähmen."
„Gut. Winner, führen Sie die Beiden da einst-
weilen in die Detentionszelle."
Bob und Niggs wurden nun von ihrem dritten
Leidensgefährten getrennt und von dem Manne, der sie
hierhergebracht hatte, wieder hinausgeleitet. Darauf
fuhr der Untersuchungsrichter, sich wieder zu Jones
wendend, fort:
„Also, Jones, Sie sind verdächtig, in Gemeinschaft
mit Niggs Ihren Brodherrn, den Advokaten Finding,
umgebracht zu haben. Erzählen Sie mir also zunächst,
ivie die Sache war."
„Ich weiß von gar nichts, Sir. Ich habe geschlafen,
und als ich aufwachte, war Mr. Fiudiug schon todt.
Ich kann also nicht dabei betheiligt gewesen sein."
„Sie wollen uns doch nicht weiß machen, Jones,
daß ein Mensch schlafen kann, während im Neben-
zimmer ein Anderer erdolcht wird. Ich bitte mir also
aus, daß Sic mir nur Sachen erzählen, die glaubhaft
sind."
„Ich erzähle, bei meiner Seele, nur, was wahr ist,
Sir," jammerte der unglückliche Schreiber.
„Und Sie wollen von der ganzen Sache nichts ge-
höit haben? Nichts wissen?"
„So wahr ich lebe, nicht das Geringste, Sir."
„Haben Sie nicht gesehen, daß Niggs den Stoß
geführt?"
„Nein, Sir. Als ich von dem Schrei des Mr.
Niggs aufwachte, stand dieser an den Thürpfosten ge-
lehnt und Mr. Finding lag schon todt in seinem Zim-
mer."
„Sie wollen also nicht nur sich selbst, sondern auch
Niggs hernuSreden. Wieviel hat Jhneu denn dieser
dafür versprochen, JoneS?"
„Er hat mir nichts versprochen, nicht einen Penny,
Sir, so wahr ich hier stehe."
„Keinen Penny? Nein, aber vielleicht tausend Pfund,
Jones-"
„Nein, bei Gott, nichts, Sir," heulte der Schreiber.
„Joues," fuhr der Untersuchungsrichter fort, „Ihr
Prinzipal ist mit einem Dolchstoß im Rücken gefunden
worden. Wie stellen Sie sich vor, daß das zugegangen
ist?"
„Ich weiß eS nicht."
 
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