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6Z6 Dns Buch f ü r All e.

diesem Punkte der ihm ilachgerühulteil Eigellschaft treu
geblieben, und vielleicht nur aus Rücksicht für die zum
größten Theil aus Deutschen bestehende Gesellschaft,
denn er hätte mit einem aufrichtigen „Ja" antworten
müssen. Es ist leider wahr, daß man gerade in Deutsch-
land der Kunst, oder sagen wir auch nur der Manier
des Essens im Allgemeinen, eine geringe Aufmerksamkeit
fcheukt. Man kann in Berlin nicht nur in den ge-
wöhnlicheren Restaurants, sondern selcht bei Drossel
und Hiller täglich bestätigende Beweise dafür geliefert
erhalten.
„Aber soll denn nicht jeder Mensch essen dürfen, wie
er will?" Gewiß darf er das, soweit er seine Manieren
vor seinem eigenen Anstandsgefühl verantworten kann.
Wir wollen darin auch in der That nicht zu weit gehen
und weder Zwang noch Ziererei empfehlen. Auch Moltke
aß uicht ganz „neumodisch". Freilich mit dem Messer
den Fisch oder Kartoffeln zu zerschneiden oder gar mit

dem Messer zu essen und mit den: Zahnstocher im
Munde spazieren zu gehen — das wären in seinen
Augen stets Attentate auf die gute Erziehung gewesen.
Jur klebrigen machte er es, wie die Königin Viktoria
von England', er zerschnitt das Fleisch erst in Stückchen
und speiste alsdann mit der rechten Hand allein.
Wir haben in Bezug auf das Esseu indeß noch auf
einen zweiten wunden Punkt aufmerksam zu machen,
und möchten darauf besonders die Aüfmerksamkeit der
Leserinnen gerichtet wissen: Das unmanierliche
Essen verhäßlicht direkt das Gesicht.
Wer sich davon überzeugen will, hat überall und
zu jeder Zeit Gelegenheit dafür. Ich habe hübsche junge
Mädchen und stattliche schöne Frauen beim Akte des
Kauens Gesichter schneiden sehen, die entsetzlich waren,
und der Anblick wurde ein noch trostloserer, wenn da
oder dort gar vielleicht noch eine Zahnlücke vorhanden
war, und das Kauen einseitig oder mit den Vorder-

Hctt 26.
zähnen allein ausgeführt werden mußte. Es sollte sich
nur einmal ein geschickter Schnellphotograph die dank-
bare Aufgabe stellen, Momentbilder von verschiedenen
essenden Personen anzufertigen, doch so, daß die Be-
treffenden in dem Augenblick nicht wüßten, daß sie
ausgenommen werden: wir würden dann die wunder-
barsten, unnatürlichsten Gestchtsverzerrungen zu sehen
bekommen.
Außer diesen das Essen begleitenden ästhetischen
Verstößen gibt es nun noch eine große Anzahl anderer
Unarten, durch die sich die Menschen nicht nur unleid-
lich, sondern in Bezug auf ihr Aeußeres zugleich häß-
lich machen können. Schon mancher Aefthetiker ist dar-
über in Eifer gerathen. Im Allgemeinen aber hat die
Unarten im Betragen und in den Manieren der Leute
mit besonderer Berücksichtigung auf deren physiognomische
Erscheinung kein Anderer treffender, wenn auch in etwas
derber Art gezeichnet, als Bogumil Goltz. Es mag


Aas Aesnttgllitz in Waupkia (chriccheilkattd). fS. 635 s

1. Gcfammtansicht von NaupUa. 2. Der Hof deS MiUiades^efniignisfeS. 3. Typcii von Gefangenen. 4 Gegenstände, welche die Gefangenen anfertigcn nnd verkaufen.

gestattet sein, aus einem Kapitel „Vorschule zur Men-
scheukeuntniß" seiner „Feigenblätter" hier eine kleine
Probe zu geben. Es heißt daselbst:
„Um nicht ungerecht und undankbar gegen Schön-
heit, Grazie und liebenswürdige Manieren zu sein, muß
inan mit Menschen zusammenleben, die von aller Schön-
heit und von dem Sinn für sie entblößt sind.
Es gibt unerträgliche Menschensie haben eine ab-
solut seelenlose, heiser bellende, gemeine Schrei- und
Knechtstimme, einen Dialekt, der in uns Uebelkeiten
erweckt. Andere sogenannte Ebenbilder der Gottheit
zeigen eine Visage, die den Uebergang vom Frosch in
den Menschen beweisen könnte; und die runden, glitzern-
den Glotzaugen harmoniren mit der Amphibien-Physio-
gnomie. Zuweilen gehören diese Exemplare der gebil-
deten Klasse an, und doch ist der inwendige Mensch so
greulich wie die Erscheinung. Wiederum gibt es Per-
sonen von dein vortrefflichsten Herzen, vom feinsten
Geiste, mit ästhetischem Urtheil in den sublimsten Dingen;
aber ohne Gefühl für ästhetische Lebensart — oder gar
für schöne Darstellung ihrer Person. Sie handhaben

Thüren, Feilster und Schubladen wie Wüthende; sie
kommen Treppen heraufgestürzt wie im Sturm und
gehen sie hinab wie gefallen oder geworfen. Beim Ein-
treten in's Zimmer reißen sie die Thür mit einem un-
motivirten Ruck weit auf wie im Komödienpathos und
wissen hinterdrein selbst nicht, wie sie zu dem verrückten
Manöver gekommen sind, oder mit welchem Gesicht es
begleitet werden soll.
Damit sind aber die barbarischen Liebenswürdig-
keiten mancher Honoratioren, und die Leiden derer, die
mit ihnen zu thun haben, noch nicht zu Ende. Es gibt
Ungeheuer, die in allen Allgenblicken ihres Gebahrens
Illustrationen zu den Mysterien der Häßlichkeit ver-
schulden. Sie exekutiren eine Art zu sprechen, zn lachen,
zu liegen, zu sitzen, zu stehen, zu gehen, zu essen, zu
trinken, die nicht nur ungeheuerlich, sondern unschicklich
und schändlich ist.
Alles in der Welt hat aber ein Maß; und wenn
uns iil einem Menschen der gebildeteil Stände, in einem
Menschen voll gebildeter Abkunft, in einem Gelehrten
sogar, ein Monstrum voll Häßlichkeit in allen Bezie-

hungen entgegentritt, dann mögen wir wenigstens sehr-
vorsichtig mit ihm umgehen, ihn zum Beispiel nicht
leicht zuvl Manne nehmen, wenn wir Frauen sind.
Der Mann aber, welcher ein total häßliches Weib hei-
rathet, bricht über sich selbst den Stab. Schönheit und
Grazie gehören zum Wesen des Weibes.
Gewisse affektirte und foreirt humane Gemüther
können auch bei dieser Gelegeilheit ilicht linlhill, zu kontra-
dieiren: daß die Meuscheu doch nicht dafür könnten,
wenn sie uugraziös, unästhetisch lind miliebenswürdig
geschaffen wären. Die Humanität bewähre sich eben
in der Nachsicht mit solchen Unglücklichen.
Darauf gegenbemerke ich: Ein Wiedehopf kann auch
nicht dafür, daß er keine Turteltaube ist, aber darum
schnäbelt sich doch kein Mädchen mit ihm. Ein garstiges
Menschenkind erfordert allerdings mehr Rücksicht als
ein garstiges Thier. Wenn aber ein Mensch gar kein
Bewußtsein von seiner häßlichen Erscheinung und Lebens-
art nufbringt, wenn er gar keine Verlegenheit lind
Trauer über senil Naturmalheur zeigt, wenn er als
gebildeter Mensch nicht einmal den häßlichen Riechanis-
 
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