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642

ihrem Lager in qualvoller Aufregung und Angst — da,
endlich, es mochte zwischen vier und fünf Ahr Morgens
sein, hörte sie auf dem Gang einen leisen, huschenden
Tritt, der an ihrer Thür stehen blieb.
„Miß Jefferson!" flüsterte Taddy leise von draußen.
Im Nu war Jessie auf den Beinen und an der
Thür.
„Sind Sie es, Taddy?" fragte sie so leise wie
möglich.
„Ja. Wo ist der Schlüssel?"
„Er hat ihn mitgenommen. Aber nur brauchen
ihn nicht. Sprechen "Sie nur langsam und so leise,
wie Sie können."
„Ja, aber nut dem Brief?"
„Hier ist er. Ich stecke ihn durch die Spalte unter
der Thür."
„Ja. Aber wie ist das mit den hundert Pfund?"
„Hören Sie zu, was ich ausgedacht habe, Taddy,
damit Sie ganz sicher sind. Sie sagen dem Herrn,
dessen Adresse ich genau auf die Leinwand geschrieben
habe, daß Sie von mir kämen und geben ihm das
Zeitungsblatt. Gibt er Ihnen dann die hundert Pfund,
so sagen Sie ihm, daß er nur das mit Bleistift Unter-
strichene lesen solle, um zu verstehen, was ich will.
Gibt er Ihnen das Geld nicht, so brauchen Sie ihm
nichts zu sagen, und er wird nichts verstehen, Taddy.
Haben Sie das begriffen?"
„Geben Sie her, Miß Jessie. Und einen Mann
besorgen Sie mir auch, wenn Sie frei sind?"
Das war nun eigentlich ein böses Versprechen, denn
Taddy war durchaus keine Venus. Aber was verspricht
man nicht in der Noth?
„Ja, Taddy, sobald ich frei bin. Sorge nur dafür,
daß Alles gut geht. Wann willst Du fort?"
„Jetzt, sofort. Ich bin schon fir und fertig. Ehe
Jemand erwacht, bin ich fort von Halfsea-Castle."
Waren es nun die empfangenen Prügel oder die in
Aussicht gestellten Belohnungen und Herrlichkeiten, oder
hatte Jessie in der hilflosen Noth ihrer Lage wirklich
das Herz Taddy's gerührt, gleichviel, Jessie hörte jetzt
schon an der Stimme der Magd, daß sie sich auf sie
verlassen könne. Sie schob also langsam und sachte
zuerst das Zeitungsblatt unter der Thür durch, dann
das Leinwandstück mit der Adresse des Doktor Strehlen.
Mit einer Nadel half sie nach und endlich war beides
im Besitz Taddy's.
„Adieu, Miß Jefferson. Aus Wiedersehen in Lon-
don," sagte Taddy.
Die Aufregung versetzte Jessie fast den Athem.
„Geben Sie Ächt, Taddy, daß Alles glückt. Ich
sterbe, Taddy, wenn Sie Unglück haben. Ich vertraue
Ihnen Alles, Alles an."
„Schon gut. Adieu."
Dann hörte Jessie wieder, wie Taddy leise davon-
schlicks-und durch das Hausthor hinaustrat in die Nacht.
Da sie jeden Schritt und Tritt in der Umgebung von
Halfsea-Castle kannte und auch der Sturm ihre Spur,
die sie etwa im Schnee hinterlassen konnte, wieder ver-
wehte, so war an ihr Entkommen wohl zu glauben.
Trotzdem aber schlug das Herz Jessie's zum Zerspringen,
und die Hände darauf pressend, wankte sie nach dein
Betstuhl hin, wo sie sich im stummen Gebet vor dem
Jesusbild niederwarf. Äll' ihre Angst, all' das zitternde
Weh ihres weichen jungen Herzens, all' die hoffende
Sehnsucht nach Freiheit und Liebe drängten sich in die
Thronen zusammen, die sie schluchzend und zuckend vor
dem Gnadenbilde vergoß. So lag sie noch, als der
dämmernde Morgen herauszog.

18.
Mit dem hereinbrechenden Winter haben die Armen-
ärzte von London immer außerordentlich viel zu thun.
Kälte und Mangel fallen die armen Leute an wie die
grimmigsten Feinde des menschlichen Lebens und führen
ein wahres Heer von Krankheiten aller Art in ihren:
Gefolge.
Trotz seiner außerordentlichen Beschäftigung hatte
aber Doktor Strehlen eines Tages doch Zeit gefunden,
auch ohne gerufen zu sein, nach Westhampton-Court
hinauszufahren. Er war auf seinen Brief an Miß
Jefferson ohne Antwort geblieben; er wußte nicht ein-
mal, ob sie überhaupt nach Halfsea-Castle gefahren mar-
oder nicht — gar nichts hatte er von ihr, weder direkt
noch indirekt, gehört.
Er war weit davon entfernt, das übel zu nehmen.
Als Arzt wußte er am allerbesten, daß man Kranken
nichts übel nehmen dürfe, daß Kranke viel zu sehr mit
sich und ihrem Leiden beschäftigt sind, als daß sie ihrer
Umgebung gegenüber immer die Linie rücksichtsvoller
Höflichkeit innehalten und ihre Verpflichtungen gegen-
über der Welt richtig abschätzen könnten. Doktor Streh-
len fuhr also nach Westhampton-Court hinaus, um zu
sehen, wie es dort ging.
In der Nacht vorher war gerade der erste Schnee
gefallen, und als er hinauskam, lag Schloß und Park
von Westhampton-Court wie ein Wintermärchen unter
der weißen Decke, als träume es. Die Läden waren

Das Buch für All e.
geschlossen, der ganze große Besitz öde und verlassen,
und an: Parkthor, das ebenfalls fest verschlossen war,
prangte an der einen Sandsteinsäule eine geschmackvolle
Tafel, auf der stand: „Miß Jessie Jefferson —- Ver-
reist!"
Verdutzt stand Strehlen einen Augenblick still und
schaute durch das elegante Eisengitter in den Park.
Keine Seele war zu sehen, nicht einmal die Spur eines
Menschenfußes im Schnee. Still und einsam lag der
herrliche Besitz da und nur von Zeit zu Zeit lugte ein
neugieriges Reh nach den: Störenfried, um sofort wieder
in den: dichten Unterholz zu verschwinden. Kein Thür-
hüter, kein Diener, kein Wärter, den man fragen konnte,
nichts — keine Seele! Unter solchen Umständen blieb
den: Doktor nichts Anderes übrig, als ruhig wieder
nach Hause zu fahren.
Aber merkwürdigerweise wurde er seit diesem doch
ganz vergeblichen Besuche von Tag zu Tag unruhiger.
Er verstand und begriff das selbst nicht, aber es war
eine Thatsache, daß er fast den ganzen Tag an nichts
Anderes dachte, als an Miß Jessie und was wohl aus
ihr geworden sein könnte. Fast täglich und regelmäßig,
wenn er in Whitel-Court oder in dessen Nähe beschäf-
tigt war, kau: er zu Miß Tapperday, aber Kitty wußte
auch nichts von Miß Jefferson. Dahingegen weinte
sie in letzterer Zeit viel über Bob Dryful's hartes und
unverdientes Schicksal, von dessen vollständiger Unschuld
an den: Tode Finding's sie überzeugt war.
Strehlen theilte diese Ansicht und tröstete das junge
Mädchen so gut er konnte, aber — von Miß Jessie
erfuhr er nichts. Sogar in das Astley-Theater ging
er, wo Tapperday noch immer für einen Schilling und
sechs Pence pro Abend das schaurig-schöne Ritterschau-
spiel „Richard Löwenherz" sonsflirte — du lieber Gott,
er wußte es bereits auswendig, besser als die Schau-
spieler. Auch hier konnte der Armenarzt von Miß
Jefferson nichts erfahren, denn Tapperday wußte nicht
das Mindeste von ihr, ebensowenig wie von Mrs.
Wimpleton, bei der seine Gedanken häufig weilten. Nun
wäre es freilich für Strehlen äm einfachsten gewesen,
wenn er sich bei Simon Jefferson nach seiner Nichte
erkundigt hätte, aber dazu könnt? sich der Arzt lange
nicht entschließen, und gerade, als er es gethan hatte,
bekam die ganze Angelegenheit durch Taddy's Ankunft
in London eine andere und sehr überraschende Wendung.
Doktor Strehlen saß gerade in seiner Wohnung
und hielt seine gewöhnliche Sprechstunde ab, als eine
Frauensperson zu ihm eintrat mit kurzen: Rock und
hohen Stieseln, wie sie die Hochländerinnen tragen,
und einen: weißroth gewürfelten Wolltuch um den Kopf.
Etwas verwundert sah er sie an. Sie erschien ihm
durchaus nicht krank.
„Sind Sie der Mann, der hier ausgeschrieben steht?"
fragte Taddy und gab ihr Stückchen Leinwand ab.
Erstaunt nahm Strehlen den Lappen in die Hand
und las, was darauf stand. Wer konnte diese steifen,
ungelenken Buchstaben darauf gekritzelt haben? Wein
fiel es überhaupt ein, in so ungewöhnlicher Art sich an
ihn zu wenden?
„Ich bin allerdings Derjenige, der hier bezeichnet
ist, meine liebe Frau. Wer aber sind Sie denn, und
wie kommen Sie dazu, sich so bei nur einzuführen?"
„Ich heiße Taddy, Taddy Snutterton, und komme
von Miß Jessie Jefferson —"
„Von wen:?" fragte Strehlen überrascht und sprang
von seinen: Sitze auf.
„Von Miß Jessie Jefferson in Halfsea-Castle, müssen
Sie wissen. Wo die Verrückten sind, verstehen Sie?"
„Miß Jefferson ist in Halfsea-Castle?"
„Na, natürlich. Schon seit drei Wochen, und es
wird die höchste Zeit, daß sie wieder fortkommt, denn
sonst schnappt sie anch über, wie die Anderen —"
„Um Gottes willen, was soll das Alles heißen?
Haben Sie keinen Brief, keinen Auftrag von Miß
Jefferson erhalten?"
„Na, natürlich. Deshalb bin ich ja hier. Hier ist
der Brief, wie man so sagt. Aber halt! Nur nicht
so rasch. Erst mein Geld! Miß Jefferson hat mir
hundert Pfund Sterling versprochen, wenn ich den Brief
hier abgebe. Also erst mein Geld, und dann den Bries.
Dann sage ich Ihnen auch, wie Sie ihn lesen müssen."
Strehlen schien die Sachlage rasch zu erfassend Dcr
Leinwandsetzen, wie auch der „Brief" redeten eine
stumme, aber doch hinlänglich deutliche Sprache von
Zwang und Gefangenschaft. In dieser Weise korrespon-
dirt inan nur aus einer Gefangenenanstalt.
„Wie kommen Sie dazu, von Miß Jefferson beauf-
tragt zu werden?" fragte er vorsichtig. „Sind Sie aus
Halfsea-Castle?"
„Das will ich meinen. War seit elf Monaten
Magd dort. Nun aber ist's vorbei. Bin ausgerückt,
und Miß Jefferson will nur einen anderen Dienst ver-
schaffen und auch einen-na, natürlich. Aber erst
das Geld, erst meine hundert Pfund."
Der Arzt hatte nicht so viel Geld zur Hand. Er
schickte feinen Diener zu seinem Vater, der mit ihn: in
der gleichen Wohnung wohnte, und ließ das Geld holen,
das er dann der Magd aushändigte.

Heft 27.
Taddy wurde ganz toll beim Anblick so vielen
Geldes, das ihr Eigenthum nun sein sollte, und tanzte
im Zimmer herum, als sei sie in Halfsea-Castle auch
verrückt geworden.
„Und ich glaubte schon, es wäre Alles Schwindel,"
rief sie, „das mit den hundert Pfund und mit dein
guten Dienst und mit dem — also Alles echt? Alles
wahr? Nun, so sollen Sie auch sehen, daß die Taddy
eine ehrliche Person ist. Nun will ich Ihnen auch
sagen, wie Sie den Brief lesen müssen. Weil nämlich
die Kranken in Halfsea-Castle nichts zum Schreiben be-
kommen, hat Miß Jefferson den Brief in dieser Weise her-
gestellt. Sie müssen alle unterstrichenen Buchstaben und
Worte auf ein Blatt besonders schreiben, dann werden
Sie wissen, was Miß Jefferson Ihnen mittheilen null."
Mit einer begreiflichen Spannung machte sich Doktor-
Strehlen sofort an diese Arbeit. Er schrieb alle unter-
strichenen Theile der Zeitung der Reihe nach auf ein
Papierblatt, wodurch das nachstehende Schreiben ent-
stand :
„Theurer Freund! Ich bin für die Rücksichtslosig-
keit, mit der ich Ihre liebevolle Warnung unbeachtet
ließ, gräßlich bestraft. Unter dem Vorgeben, ich sei
geisteskrank, sperrt man mich in eine vergitterte, unge-
heizte Zelle und behandelt mich wie eine Gefangene —
schlechter als eine solche. Man prügelt mich, wenn ich
schreie und mich beklage!! Ich kann nicht viele Worte
machen. Eilen Sie zu meiner Rettung, setzen Sie Alles
in Bewegung zu meiner Befreiung, und der Himmel
wird Ihnen die Wohlthat, die Sie an nur thun, in
diesem und in jenem Leben vergelten. Aber Eile thut
noth. Halfsea-Castle ist eine Hölle auf Erden. Ich
habe mich seit zwei Wochen nicht satt essen können!
O — eilen Sie, mein theurer, mein einziger Freund
auf dieser Welt, zu Ihrer verlassenen und unglück-
lichen I. I."
Bleich vor Aufregung, mit angehaltenem Athem.
und mit zitternder Hand hatte Strehlen diese Worte
langsam und mühselig aus der Zeitung herausbuch-
stabirt und ausgeschrieben. Nun stand er da, wie vom
Donner gerührt und starrte sprachlos vor Schreck und
Ueberraschung die Ueberbringerin dieser furchtbaren
Botschaft an.
„Ja, ja, so ist es," sagte Taddy in ihrer derben,
wie empfindungslosen Art, „Doktor Commins ist ein
Halunke. Das weiß ich längst. Und wenn Sie ihm
Eins auf die Jacke geben wollen, so sagen Sie es mir.
Ich helfe gern. Er hat mich genug mit feiner Frau
drangsalirt für die paar Schillinge, die ich gekriegt
habe."
„Aber das ist ja entsetzlich! Eine Dame wie Miß
Jefferson so ohne Weiteres als wahnsinnig zu behan-
deln, und in solcher Weise zu behandeln —" sprach
Doktor Strehlen mehr zu sich selbst, um sich Luft zu
machen, als zu Taddy.
„Das ist schon Mancher dort so ergangen."
„Aber was soll geschehen, um der Dame so rasch
wie möglich Hilfe zu bringen?"
„Sie müssen sie stehlen. So lange sie in der Ge
walt des Doktor Commins ist, nützt Alles nichts. Er
behauptet vor zehn Gerichtshöfen, daß sie verrückt ist.
Das weiß ich schon. Er ist ein schlauer Patron."
„Aber ihr Onkel —"
„Der Dicke?"
„Ja. Mr. Simon Jefferson."
„Aha, ganz recht. Der hat sie ja zu uns gebracht.
Das ist gewöhnlich so. Die lieben Verwandten, denen
sie im Wege sind, bringen sie selbst hin. Das ist es
ja eben. Deswegen ist es so schwierig. Wenn irgend
Jemand bei irgend etwas in: Wege ist, so bringen sie
ihn zu Doktor Commins. Das ist's ja eben."
Allmälig kau: Doktor Strehlen wieder zu seiner
klaren, ruhigen Ueberlegung und er ließ sich nun zunächst
von Taddy alle Einzelnheiten von Jessie's Aufnahme
oder vielmehr Gefangennahme in Doktor Commins' Än-
stalt bis zum Entweichen Taddy's aus Halfsea-Castle
erzählen. Dann fragte er sie:
„Wo wohnen Sie in London?"
„Vorläufig noch gar nicht. Aber das macht nichts.
Ich habe ja nun Geld."
„Wollen Sie mit mir kommen? Ich schaffe Ihnen
ein billiges und passendes Unterkommen."
„Natürlich will ich nut Ihnen kommen, wenn Sie
mir ein Unterkommen besorgen können."
„Aber Sie müssen nur versprechen, es in den nächsten
Tagen nicht zu wechseln, ohne daß ich es weiß. Es
könnte doch vorkommen, daß nur Ihrer zu unseren:
Vorhaben in Halfsea-Castle bedürften."
„Ich bin immer da, wenn Sie mich brauchen."
„So kommen Sie, Taddy. Wir gehen sofort. Wir
dürfen keinen Augenblick verlieren."
Noch wußte Doktor Strehlen nicht, was in der An-
gelegenheit zu thun sei, aber daß etwas geschehen mußte,
und zwar so rasch wie möglich, war ihn: klar. So gefäbrlich
es war, direkt in Halfsea-Castle einzugreifen, was doch
nicht anders hätte geschehen können, als indem inan ent-
weder gewaltsam oder durch List Miß Jessie aus der
Anstalt des Doktor Commins befreite, so sehr brauchte
 
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