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666

Das Buch f ü r All e.

Heft 28.

Jefferson und warf sich auf seinen: Lager herum. Der
regelmäßige militärische Tritt seines Wärters, der vor
seinen: Gitter auf und ab ging, peinigte ihn. Wem: er
sich nur ebenso, wie er sich herumwarf, um ihn nicht
mehr zu sehen, auch Hütte die Ohren verstopfen können,
um ihn nicht zu hören. Es war entsetzlich; diese Ruhe
der Nacht und immer dieser Tritt! Immer, immer!
Er wollte schlafe::, und wirklich gelang es ihn:, seine
durch die Aufregung und Qual der letzten Tage her-
untergekommenen Nerven in einen leichten Schlummer
zu versenken. Da sah er seinen Bruder, wie er an den
Fuchslöchern hinritt. Er hörte, wie sein Bruder wohl-
meinend und ermahnend zu ihn: sagte:
„Simon, ich fürchte, Deine Lage ist schlechter, als
Du einräumen willst. Du lebst zu luxuriös, und Deine
Unternehmungen schlage:: fehl. Du solltest offen und
ehrlich zu mir sein."
Und Simon Jefferson drängte das Pferd, das er
am Zügel führte, immer weiter und weiter an den
Abgrund hin.
„Simon!" schrie sein Bruder wieder auf, als er das
heimtückische Gebahren feines Bruders bemerkte. „Si-
mon!" Ah — und der Blick, mit den: er den Schrei
begleitet hatte! In seinem ganzen Leben konnte der
Verbrecher diesen gräßlichen Blick nicht wieder vergessen!
In kalten Schweiß gebadet fuhr er wieder aus dem
Schlummer auf. Er fuhr mit der Hand über die Stirn
und lauschte. Immer uoch tappte der Wärter langsam
und regelmäßig auf und ab, und wieder legte sich der
Gefangene zum Schlafen.
Da tauchte aus dein Meer der Träume seine Frau
Jane auf, die er, als sie kaum achtzehn Jahre zählte,
geheirathet. Sie hatte einen kleinen, lockigen Buben
aus dem Arm, Hugh, und sagte zu ihm:
„Wozu brauchen wir ein Haus und ein Vermögen?
Sind wir nicht Beide jung? Können wir nicht Beide
arbeiten und unfern Lebensunterhalt verdienen? Wozu
brauchen nur Deinen Bruder zu beneiden? Laß ihn:
seine Schätze und sei glücklich mit Deinen: Weibe und
Deinem Kinde."
„Du bist eine Närrin, Jane, sei still," herrschte er
sie an. Und die arme Frau verwandelte sich vor-
feinen Augen in eine abgehärmte, bleiche Angstgestalt,
die bei jedem Windstoß etwas Schreckliches fürchtete.
Die Gefängnißuhr schlug wieder. Simon Jefferson
zählte die Schlüge.
„Vier Uhr! Welch' fürchterliche, grauenhafte Nacht!"
seufzte er. Ja, wenn er schlafen konnte! Aber diese
Träume, die ihn: sein Leben voller Jrrthümer, voller
Verbrechen enthüllten, die ihn: zeigten, wie aus der
Wurzel des Neides auf seinen Bruder, aus diesem un-
scheinbaren, verzeihlichen Fehler diese entsetzliche Reihe
unmenschlicher Verirrungen hervorwuchs, wie immer-
schrecklicher aus Bösem Böses sich gebar. Diese Träume
waren marternder, peinigender als giftiges Gewürm
an: Herzen. — Nein! Er wollte nicht mehr schlafen,
nicht mehr träumen. Er sprang von seinen: Lager auf
und machte einige Gänge durch seine Zelle, langsam,
schleppend, schleichend. Er war zu schwach, er konnte
nicht mehr gehen. Ein Mann von noch nicht sieben-
undvierzig Jahren! Das hatte der Neid gethan. Mit
einem erbärmlichen Seufzer sank er wieder auf seinen:
Lager zusammen. Doch schon nach kurzer Rast fuhr er-
zitternd und hastend wieder aus.
Die Gefängnißglocke schlug wieder. Athemlos lau-
schend stand Simon Jefferson wieder da und zählte die
Schläge, die langsam, aber bestimmt durch die Räume
klangen. Noch nie, nie in seinem Leben hatte er eine
so merkwürdige, so unheimliche, heimtückische Glocke
gehört.
„Eins," zählte er, „zwei, drei — vier — — fünf
--sechs!" - Ihn überfiel ein ängstliches Zittern.
Schon Sechs! Herr des Himmels, schon Sechs!
Draußen wurde es lebendig. Man kam durch den
langen Gang. Gerichtspersonen, der Sheriff mit seinen
Leuten, Wächter und Wärter. Man schloß das Gitter
auf, hinter dem der Gefangene saß.
„Simon Jefferson, Ihre Zeit ist da!" sagte der
Sheriff langsam und bedeutend.
Sie nahmen ihn in ihre Mitte und gingen nach der
Kapelle des Gefängnisses zum letzten Gottesdienst. Man
mußte ihn rechts und links stützen. Was war aus dem
starken und robusten Mann in den wenigen Monaten
geworden! Grau, fahl und schlotternd hing ihm die
Haut, als ob sie zu weit geworden wäre, um die Glie-
der, scheu und ängstlich, wie nur ein entlarvter Mörder
blicken kann, lag der Blick am Boden, der Gang war
schwankend, die Hände matt und zitterig. In der Mitte
der Kapelle stand, etwas erhöht, ein schwarzer Stuhl,
der Stuhl der zum Tode Verurtheilten.
Da hinein hob man den ächzenden Verbrecher. Um
ihn herum saßen eine Anzahl Gefangener von New-
gate, die neugierig und scheu auf den alten, gebroche-
nen Menschen blickten, dessen Leben nur noch Minuten,
keine Stunden oder Tage hatte. In einer Loge rechts
von der Kanzel saßen — sämmtlich in tiefer Trauer —
die Angehörigen des Verurtheilten, seine Gemahlin Jane,
sein Sohn Hugh, feine Nichte Jessie, dann Doktor-

Strehlen, Mary Wimpleton, Bob Dryful, Tapperday
mit seiner Schwester und Niggs. Erst nach einer Weile
hob Simon Jefferson den Blick nach der Loge empor,
furchtsam, verstört, als ob eine unwiderstehliche Gewalt
ihn dazu zwänge. Er erkannte sie Alle. Ein müder,
hoffnungsloser Seufzer rang sich von seinen blutlosen
Lippen, das verlöschende Wimmern eines Verlorenen.
Die Frauen da drüben schluchzten und weinten laut,
die Männer blickten tiefernst und erschüttert zu Boden.
Der Geistliche bestieg die Kanzel. Er sprach von
der sühnenden Kraft der Gerechtigkeit auf Erden und
in: Himmel. Mit den: ganzen schweren Ernst der
Situation suchte er den bevorstehenden letzten Augen-
blick, den schrecklichsten Vorgang im Menschenleben mit
religiösen: Zuspruch, mit den: Hinweis auf die uner-
schöpfliche Gnade des Allmächtigen zu mildern.
Der Vorgang hatte etwas tief Ergreifendes, und
keine Warnung konnte eindringlicher, mahnender zu dem
Menschengemüth reden, als jene gebrochene, elende Ge-
stalt dort in den: schrecklichen schwarzen Stuhl, die im
Begriff stand, ihre Verirrungen und ihre schwere Schuld
zu büßen. Was hatten dein Mann nun sein Sinnen
und Trachten, seine Verstellungskunst, seine berechnende
Klugheit, sein tollkühnes, unerschrockenes Handeln ge-
fruchtet? Zu welchem Ende hatten Sorge und Mühen
des Lebens für ihn geführt?
Ein müder, gebrochener Mann in: schwarzen Stuhl
der zum Tode Verurtheilten, das war das Ende. Wie
ein Baun:, der aus schlechten: Grunde schießt, schon die
kernfaule Todeskrankheit in sich birgt, so mußten die
Anlagen Simon Jesferson's dahin führen, wo er war.
Dann führten sie ihn hinaus-hinaus, von
ivo Niemand zurückkehrt.

21.
Das Leben ist ein ewiges Meer! Eine Welle ver-
drängt die andere, und wie sie auch glitzert in der Lwnne,
wie sie stolz rauscht und schäumt und lustig an den
Uferfelsen hinaufschlägt oder auch donnernd und Ver-
derben um sich her verbreitend den Ocean durchrollt —
sie muß doch wieder der nächsten weichen und versinkt
in das Wesenlose des Vergangenen. Und ein Tag in:
Leben ist wie eine Welle in: Meer. Der leuchtende
Tag mit seinen frischen Eindrücken, seinen neuen Ereig-
nissen drängt seine Vorgänger in das Schattenreich des
Gewesenen und wird wieder verdrängt von seinen: Nach-
folger —- ein endloser Wechsel!
Und nur Menschen schwimmen auf diesen: Meer, so
hilflos wie die Mücken an einen: Sommerabend, die
der nächste Tag nicht mehr sieht. Diesen verschlingt
eine Welle, und während unser Geist noch voll Schauern
darüber erfüllt ist, jubeln wir schon einem Anderen zu,
den die Wellen des Lebens stolz und glücklich an unseren
Blicken vorübertragen — ein Augenblicksgeschlecht!
Daher kam es, daß das finstere und schaurige Ende
Simon Jesferson's mit der Zeit viele seiner Schrecken
für die Ueberlebenden verlor. Es waren nur wenige
Jahre vergangen, das Frühjahr, der große Regenerator
für Welt nnd Menschen, war wieder einmal in West-
Hampton-Court eiugekehrt, und die zahlreich dort ver-
sammelten Menschen schmückten im Hellen Festesjubel
Park und Schloß von Westhampton-Court nut blumigen
Guirlanden und wehenden Fahnen, die weithin lustig
in der weichen Frühlingsluft flatterten.
Au: Eingang zum Park standen eine Anzahl Musiker
zum Empfang der Herrschaft bereit, und auf den Kies-
wegen des Parkes eilten in toller Geschäftigkeit Herren
und Damen hin und her, galonnirte Diener waren be-
schäftigt, da und dort Sinnsprüche zum Willkommen
anzubringen, die sich sämmtlich in mehr oder weniger-
gelungener Anspielung auf die glückliche Rückkehr der
Herrin von Westhampton-Court und ihres Gemahls
bezogen.
Doktor Hellmuth Strehlen kau: nut seiner jungen
Frau Jessie von einer dreimonatlichen Hochzeitsreise, die
sie nach Italien unternommen hatten, zurück.
Dieses Ereignis; in würdiger und den Umständen
angemessener Weise zu feiern, hatten sich natürlich
Tapperday und Mary Wimpleton, wie auch Bob Dryful
mit seiner jungen Frau Kitty nicht nehmen lassen.
Besonders Bob mit seiner jungen Frau glaubte alle
Ursache zu haben, sich der neuen Herrschaft von West-
hampton-Court ergeben und dankbar zu beweisen, war
es doch lediglich den: menschenfreundlichen Entgegen-
kommen von Frau Doktor Strehlen nnd ihren: Manne
zu verdanke,:, daß das Gut Jessie's in Tewkesbury durch
einen Scheinkauf, wodurch Niggs' Pachtkontrakt gegen-
standslos wurde, wieder in die Hände Bob's zurückfiel.
Niggs hatte sich in die neue Ordnung der Dinge sehr
bald gesunden. Tewkesbury hatte ihn: ohnehin nicht
besonders behagt, nnd so war er froh, wieder nut seiner
Erbschaft nach London übersiedeln zu können. Leider
war ihm vor Kurzem ein kleiner Unfall begegnet. Da
er nämlich ein sehr schlechter Wirthschafter war und zu
besorgen stand, daß er nut seinen: Vermögen zu rasch
fertig werden würde, so hatten ihn seine Verwandten

unter Kuratel gestellt. Wie er auch jammerte und
schrie, er mußte jetzt mit hundert Pfund im Jahr aus-
kommen.
Auch die frühere Taddy Snutterton und jetzige Taddy
Webster war da. Sie war schon seit zwei Jahren ver-
heirathet und zwar gar nicht schlecht, obgleich ihre Ver-
heirathung für die Betheiligten eine sehr schwierige
Aufgabe gewesen war. Sie hatte, wie sie sich selbst
auszudrücken beliebte, „ein Kohlengeschäft" geheirathet.
Ihr Mann war ein sehr rühriger Geschäftsmann, und
da ihn die hundert Psund Taddy's sowohl, wie auch
die von Doktor Strehlen in Aussicht gestellten Kohlen-
lieferungen an das Distriktsspital sehr bestochen hatten,
so drückte er bezüglich Taddy's ein Auge zu und nahm
sie mit in den Kauf. Leider stellte sich aber hinterher
heraus, daß Taddy eine leidenschaftliche Liebhaberin von
Doppelbier war, und man erzählte sich in der Nachbar-
schaft, daß Mr. Webster hin und wieder genöthigt sei,
seiner zarten Ehehälfte begreiflich zu machen, daß auch
eine Frau Kohlenhändlerin nicht mehr Doppelbier trinken
dürfe, als sie vertragen könne. Taddy ist philosophisch
genug, um sich zu sagen, daß die Welt nun einmal eine
unvollkommene, und die reine Seligkeit auf Erden ebenso
selten und unmöglich wie fortwährendes Doppelbier ist.
Augenblicklich stand Taddy auf einem Parkweg und
rief einem der Diener zu:
„Es müssen mehr Blumen gestreut werden, Edward,
hören Sie? Sie müssen auf Blumen wandeln, sage ich
und behaupte ich. Es müssen noch mehr Blumen her."
Der Diener lief davon.
„Taddy," ermahnte sie ihr Mann, der bei ihr stand,
„ich bitte Dich, betrage Dich ordentlich und blamire
mich nicht vor den Herrschaften. Hörst Du? Vielleicht
können wir die Kohlenlieferungen nach Westhampton-
Court bekommen. Das wäre ein Glück für uns. Aber
ich bitte Dich, betrage Dich anständig oder —"
„L-ei nur still, Charley. Was will denn eine einzige
Flasche Doppelbier heißen? Habe nur keine Angst. Die
Bierhändler sind ja alle Spitzbuben, die Flaschen werden
immer kleiner. Die Welt muß ja zu Grunde gehen,
wenn das so fortgeht."
„Ich bitte Dich, Taddy —"
„'s ist gut, Charley. Wenn ich sage, es ist gut, so
ist es gut!"
Der Aufgeregteste aber unter allen Aufgeregten, die
an diesem Tage die Ankunft der Herrschaft von West-
hampton-Court erwartete::, war Tapperday. Er fing
in fünf Minuten zwanzig Sätze an und brachte keinen
einzigen zu Ende, lief hierhin und dorthin, wollte überall
Helsen, kam zu spät, war ungeschickt und machte einen
höchst kölnische:: Eindruck.
„Will, was hast Du denn eigentlich," fragte ihn
Bob Drysul, „was geht Dir denn im Kopfe herum?"
„Ach, Bob!" feuszte Tapperday, sah wie verzweifelt
in die Bäume hinauf, fingerte an seinen: Frack herum
und machte wahrhaftig den Eindruck eines Mondsüchtigen
bei Tage.
„Heraus damit, Will. Wo fehlt's? Du hast doch
jetzt einen guten Posten, und seitdem Du auf West-
hampton-Court Ausseher in den Steinbrüchen bist, fehlt
es Dir doch nicht an: Nöthigsten. Also was ist es,
Will? Zu Deinem alten Bob wirst Du doch reden
können."
„Ach, Bob, mein Herz —" seufzte Will wieder.
„Du bist ein Hasenfuß, Will, Du hast kein Herz.
Wenn ich so feige gewesen wäre wie Du, so wäre Deine
Schwester Kitty niemals meine Frau geworden, und ich
Hütte noch keinen Jungen."
„Ja, ja, Kitty. Das will nichts heißen, das war
in ei ne Schwester."
„Nun? Und Mary Wimpleton ist auch blos ein
Frauenzimmer. Weiter nichts."
„Aber was für eines, Bob! Ach —"
„Du hast kein Herz, das ist's. Alter Bursche, ich
sage Dir, Du mußt Courage haben oder es wird nichts
aus Dir! Auf der Stelle gehst Du jetzt hin zu Mrs.
Wimpleton und fragst sie kurz und bündig, ob sie will
oder nicht, und damit basta."
Damit nahm Bob seinen alten Freund und Leidens-
gefährten ohne Weiteres unter den Arm und wollte ihn
mit sortziehen.
„Du meinst wirklich, es ginge?" fragte Tapperday
mit bebenden Lippen.
„Es geht Alles, komm, Will. Jetzt ist die beste
Zeit dazu. Es ist eine Ueberraschung für die Herrschaft."
„Ja — aber — wirklich, Bob? Du meinst wirklich
und wahrhaftig, daß das geht?"
„Ei, zum Henker," rief nun Bob ungeduldig, „warum
soll's denn nicht gehen!" und er versuchte wieder, ihn
sortzuziehen.
„Warte, warte, Bob. Einen Augenblick. Nur eine
Sekunde. Es geht leichter."
Damit sprang Will an das Büffet, schenkte sich ein
Glas Shrub ein und goß es hinunter.
„Nun vorwärts, vorwärts, zum Sieg oder Tod!"
bramarbasirte er. Die Theatererinnerungen saßen ihm
noch immer in den Adern. —
Mrs. Wimpleton saß auf der Terrasse; sie mußte
 
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