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Bergner, Heinrich [Hrsg.]
Beschreibende Darstellung der älteren Bau- und Kunstdenkmäler der Provinz Sachsen (Band 24): Beschreibende Darstellung der älteren Bau- und Kunstdenkmäler der Stadt Naumburg — Halle a. d. S., 1903

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https://doi.org/10.11588/diglit.25507#0117
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Kreis Naumburg.

Mahlzeit. Mit dem schärfsten Naturblick hat er den menschlichen Leib beobachtet,
die Gesetze der Bewegung, das Spiel der Muskeln, die Vielfältigkeit der Köpfe
und Gesichter. Bei ihm ist keine Spur von einem Ideal, von einem Kanon der
Schönheit. Wir empfinden unmittelbar die lebensvolle Kraft seiner Modelle, mit
allen Zufälligkeiten und Schönheitsfehlern, wie die Natur sie bildet. Darin kann
er nur mit Goethe verglichen werden. Wie frei und absichtslos sind diese
Menschen hingestellt. Zieht man das Beste der alten Kunst, die griechischen
Bildnisstatuen des 5. Jahrhunderts, zum Vergleich heran, so verraten sie sogleich,
wie viel Pose und gemachte Haltung ihnen innewohnt. Durch die herbe Natur-
kraft überragt er die etwas glatte Schönheit der Obersachsen ebenso wie die
französische Stilisierung der Bamberger. Im Grund ist er stillos. Und gerade
dieser Mangel an Schablone und Manier bringt ihn dem modernen Empfinden
so nahe. Wenn diese Gestalten nicht durch Tracht und Waffen ihre Zeit verrieten,
so könnte man sie in jede Blütezeit unserer Kunst, unter Adam Kraft wie unter
Bauch, einreihen. Der evidente Beweis liegt darin, daß Schmarsow in allem
Ernst den Diakon in das 16. Jahrhundert gesetzt hat.

Die spezielle Aufgabe und die Sitte seiner Zeit versagte dem Meister, das
landläufig höchste Objekt der Plastik, den nackten Menschen darzustellen. Der
Kruzifixus kann hier nicht gelten, denn er steckt voll Nebengedanken. Dafür
hat er ewig gültige Muster für Gewandstatuen aufgestellt. Auch unter den
schweren und dicken Stoffen sind seine Körper lebendig. Seine Figur ist in
Knöcheln und Knien, in Hüften, Hals und Schultern beweglich. Durch den
Wechsel von Spiel- und Standbein, durch eine leichte Wendung des Oberleibes,
durch Neigung und Drehung des Hauptes und durch stete Beschäftigung der
Hände weiß er immer neue Motive zu schaffen. Er hat die kühnsten Bewegungs-
motive gewagt und keins ist ihm verunglückt. Und wie er die Haut, die Lippen
und Augen, die Stirn und die Finger zu beleben, jeden Kopf mit Charakter und
Leidenschaft zu erfüllen versteht, werden wir mit Staunen gewahr werden. Auch
darin ist er so Realist, daß man von ihm trefflich lernt, Gebärdensprache und
Mienenspiel in der Natur zu beobachten. Wie oft ist z. B. sein Johannes unter
dem Kreuz von flüchtig reisenden Kunstschreibern wegen „übertriebenen
Schmerzes“ oder „hohlen Pathos“ getadelt worden. Aber wirklich ist das Gesicht
des Mannes, der Tränen mit Gewalt zu unterdrücken sucht, in solch spaßhafter
Grimasse verzogen, welche in der ernstesten Lage zum Lachen reizen kann.
Sein lapidares Talent, zu erzählen und zu komponieren, wird uns in jeder einzelnen
Reliefscene entgegentreten.

Höchst eigenartig und bezeichnend ist sein Gewandstil. Zunächst ist
auch hier nichts schulmäßig Erlerntes, kein fremdes „Motiv“, keine leere Draperie.
Jeder Wurf und Zug entspricht der Haltung und Bewegung des Körpers und ist
im sorgsamsten Studium dem Leben abgelauscht, nach dem Modell gezeichnet.
Im Faltenwurf überrascht er bald durch herbe Einfalt, bald durch lebhaftes, reiches,
ja verwickeltes Spiel der Linien. Er scheut sich nicht, die Falten des Mantels
von den Achseln bis zu den Füßen steif und gerade, wie am Lineal gezogen
herabfallen zu lassen (Gerburg, Gepa), er überwältigt aber auch mit spielender
Leichtigkeit das Gewirr der Stoßfalton auf den Füßen, einen eingewickelten Arm
(Wilhelm, Johannes), einen aufgenommenen Bausch (Uta) oder eine Verhäkelung
 
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