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Braun, Joseph
Der christliche Altar in seiner geschichtlichen Entwicklung (Band 2): Die Ausstattung des Altars, Antependien, Velen, Leuchterbank, Stufen, Ciborium und Baldachin, Retabel, Reliquien- und Sakramentsaltar, Altarschranken — München, 1924

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https://doi.org/10.11588/diglit.2049#0187

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Sechstes Kapitel. Charakter und Zweck der Altarvelen 171

hinderm Fürhang". Nicht eine Art von Allerheiligstes im Heiligtum der Kirche zu
schaffen, war der ursprüngliche Zweck der seitlichen Vorhänge, wohl aher wurden
sie nachträglich dahin ausgelegt, als sollten sie die Gläubigen daran erinnern, daß
der zwischen ihnen stehende, von ihnen umschlossene und gleichsam von ihnen ver-
hüllte Altar das All erheiligste sinnbildlich darstelle.

Von anderem Charakter als die gewöhnlichen Altarvelen war das

Fastenvelum. Es sollte weder Schmuck des Altares sein noch irgend-
welchen praktischen Zwecken dienen, sondern lediglich den Altar und den
an diesem zelebrierenden Priester während der Fastenzeit für die Blicke
des Volkes wie der Chorgeistlichkeit verhüllen. Es hatte darum, wie der
Altarvorhang in den Riten des Ostens, einen ausgesprochen liturgischen
Charakter, wenn es auch insofern von jenem durchaus verschieden war, als
es nicht das ganze Jahr hindurch, sondern nur zu bestimmter Zeit gebraucht
wurde, seine Verwendung nicht sowohl aus Rücksicht auf die Feier des
hl. Opfers als vielmehr aus Rücksicht auf die Eigenart der Fastenzeit erfolgte
und das Fastenvelum ein sinnfälliger Ausdruck nicht des geheimnisvollen
Charakters der Messe, sondern des Bußcharakters der Zeit, in der es auf-
gehängt wurde, war.

Wenn man in dieser entgegen dem im übrigen Kirchenjahre herrschenden
Brauch den Altar und den an ihm zelebrierenden Priester durch einen Vorhang ver-
hüllte, so war das gleichsam eine Art von leichtem, freiwillig übernommenem Inter-
dikt, bei dem man zwar nicht die Messe unterließ, sie aber in Verborgenheit und so,
daß sie selbst den Augen des anwohnenden Klerus entzogen war, feierte. Es war
das wie eine neue Form der alten expuisio poenitentium, nur daß alle, nicht bloß
einzelne, als Sünder vom Gottesdienst ausgeschlossen wurden, und daß diese expuisio
bloß eine symbolische, nicht eine reale Ausweisung darstellte. Was man aber mit
dem Brauch beabsichtigte, war, alle, die gewöhnlichen Gläubigen wie den Klerus, in
wirksamer Weise dem Zwecke der Fastenzeit entsprechend an die Sündhaftigkeit
des Menschen und die Notwendigkeit der Buße zu mahnen, zur Einkehr in das eigene
Innere zu bewegen und zur Pflege wahrhaft bußfertiger Gesinnung anzutreiben.

Die mittelalterlichen Liturgiker geben uns freilich ganz andere Gründe für den
Gebrauch des Fastenvelums an, besonders Honorius, der sich in der Deutung des-
selben gleichsam erschöpft. Es ist nach ihm ein Abbild des Velums, das im jüdischen
Tempel zwischen Heiligen und Allerh eiligstem aufgehängt war und die Arche des
Bundes verhüllte; ein Bild des in mannigfacher Pracht erstrahlenden, von Edel-
steinen, den Sternen, funkelnden Himmelsgewölbes, das Körper- und Geisterwelt von-
einander scheidet und jetzt noch Christus und das himmlische Vaterland unsern
Blicken verbirgt, einst aber wie ein Buch zusammengefaltet und wie ein Zelt zu-
sammengerollt wird, so daß uns dann des Herrn Angesicht und die himmlische
Herrlichkeit enthüllt werden- Auch an den Schleier erinnert es nach Honorius, mit
dem Moses das Angesicht verhüllte, weil ihn sonst das Volk nicht anzuschauen ver-
mocht hätte, desgleichen an die carnalis observantia, den äußeren Gesetz es dienst, der
wie eine Hülle um das geistige Auge des Juden gelagert war, so daß sie nicht zum
rechten Verständnis des Gesetzes gelangten. Doch sinnbildet es auch, daß selbst uns
in dieser Zeit die Geheimnisse der Hl. Schrift noch verborgen sind, und daß nur
wenigen gegeben ist, in dieselben einzudringen, wie ja auch nur dem Priester und
den wenigen Ministri hinter das Velum zu treten verstattet ist". Nach Hugo von
St. Viktor soll das Fastenvelum das velamen mortalis naturae, unsere Leiblichkeit,

18 Gemma I, 3, c. 46 (M. 172, G56).
 
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