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Braun, Joseph
Der christliche Altar in seiner geschichtlichen Entwicklung (Band 2): Die Ausstattung des Altars, Antependien, Velen, Leuchterbank, Stufen, Ciborium und Baldachin, Retabel, Reliquien- und Sakramentsaltar, Altarschranken — München, 1924

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https://doi.org/10.11588/diglit.2049#0546

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530 Fünfter Abschnitt. Das Retabel

liehen Sinn, wie die Loccumer Inschrift Das Jesuskind will alle segnen, die seine
heilige Mutter grüfien, aber nur, wenn sie das aus gutem Herzen tun.

Ein italienisches Retabel in N.-Dame de bon Secours zu Puget-Thenicrs (Alpes
morit.), in dessen mittlerer Abteilung, umgeben von den Leidenswerkzeugen und be-
gleitet von Maria, die auf ihre Brust hinweist, der Schmerzensmann dargestellt ist,
hat unten am Kreuz, vor dem dieser steht, auf einer Tafel die dem hl, Bernard
entlehnte, tröstliche Lehre: Tutum habet homo accessum ad Deum, ubi habet filium
ante patrem et matrem ante filium. Filius ostendit latus et vulnera, mater oslendit
pectus et ubera. Nulla poterit esse repulsa, ubi tot sunt charitatis insignia.

Den Beschluß mögen zwei Retabelinschriften der dritten Klasse bilden, in denen
die Andacht zum Leiden des Herrn ihren Ausdruck gefunden hat. Die eine befindet
sich auf dem Sockel des geschnitzten Passionsret ab eis in St-Leonard zu Leau in
Belgien, einem trefflichen Werk der flämischen Frührenaissance, sie besagt: Crucem
tuam adoramus. Domine — Tuam gloriosam recolimus passionem. Die andere
steht auf der Umrahmung eines von dem Dechanten Hans Raphon zu Einbeck
gemalten Flügelretabels im Weifen museum zu Hannover, dessen Mittelbild eine
ügurenreiche Kreuzigung darstellt, und setzt sich aus zwei Distichen zusammen, von
denen eines auf dem oberen, das andere auf dem unteren Rahmen angebracht ist.
Jenes lautet: Tantus amor pietasque ingens dilectio tanta — Exeidat a firmo pectore,
Christe, meo?, dieses: An ne mea labi poterunt hi mente dolores — Lancea, crux,
clavi, sputa, fl agell a, vepres10?

Die Inschriften bildeten in der ebenso ausgiebigen wie eigenartigen Ver-
wendung, die sie auf den mittelalterlichen Retabeln erfuhren, einen charak-
teristischen Teil des mittelalterlichen Ornamentenschatzes. Daher mußten
auch sie allmählich aus der Ausstattung des Retabels verschwinden, als die
Renaissance in demselben ihren Einzug hielt und mit seiner Form auch die
ihm bis dahin eigene Verzierungsweise in ihrem Sinne und nach ihrem Ge-
schmack umgestaltete. So wurden auch sie ein Opfer des Stilwechsels. Frei-
lich paßte auch das Inschriftenwesen der mittelalterlichen Retabeln wenig
mehr zu der mächtigen Architektur und zu dem auf kraftvolle Wirkung ab-
zielenden Bildwerk des Retabels der Spätrenaissance und des Barocks.

Die Inschriften, die bis in das 16. Jahrhundert hinein einen so beliebten,
so schönen und oft so sinnreichen Bestandteil der Ausstattung der Retabeln
darstellten, spielten demgemäß in der Spätrenaissance und im Barock auf
denselben keine bemerkenswerte Rolle mehr. Was aber an solchen noch
gelegentlich auf ihnen vorkommt, ist durchweg zu bedeutungslos, als daß es
sich verlohnte, darauf näher einzugehen. Auf den Retabeln, die in lutherischen
Kirchen entstanden, brachte man gern den einen oder andern Bibelspruch an.

NEUNTES KAPITEL

WANDMALEREIEN UND BEHÄNGE OBERHALB
DER ALTÄRE

I. WANDMALEREIEN OBERHALB DER ALTÄRE
Es wäre, wie schon gelegentlich bemerkt wurde, durchaus irrig, wollte
man annehmen, daß schon im 13.. spätestens aher im 14. Jahrhundert alle
Altäre der Regel nach mit einem Retabel ausgestattet wurden. War das doch

10 Münzenberger-Beissel I, 157.
 
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