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62 Das theoretische Konzept des Expressionismus

überstand, kam gegen Kriegsende zu der Einsicht, daß „alle Form
[...] nur Sprache“ sei, „nur ein Versuch, das Weltgefühl aus uns
herauszustellen. Daher hat jeder auf seine Weise recht.“36
Der Zeitgeist prägt jedoch nicht nur den Künstler, sondern
auch den zeitgenössischen Betrachter. Ihm wird jede Möglichkeit
genommen, sich von einem Kunstwerk zu distanzieren, in dem
sich doch das Lebensgefühl der eigenen Zeit manifestiert:
„Nun — da wir die Kunst erkannt haben als die Auswirkung des
Lebensgefühls, nun da sie gleichberechtigt sogar neben die Religion sich
stellt — nun ist sie für alle Zeit von dem alten Verdachte befreit, als
könne sie das Produkt einer Laune, das Kind einer kleinen fanatischen
Gruppe sein [...], nun wissen wir, daß sie ein Stück des Weltgeistes, ein
Stück unserer Seele ist. Nun wird auch das einzelne Werk uns geheiligt
sein, und vor der Schöpfung des Künstlers [...] werden wir uns nicht
mehr einseitig als Richter und Kritiker gerieren. “37
Damit ändert sich das Rezeptionsverhalten. Statt „ein Werk in
kritischer Analyse zu zerpflücken, um die Mittel nachzuweisen,
deren sich der Künstler bediente“,38 muß der Betrachter versu-
chen, das innere Erlebnis des Künstlers nachzuempfinden und
sich „in den seelischen Rhythmus, den der Maler mit den Dingen,
mit Form und Farbe, Ton und Linie fühlend ausgedrückt hat, so
weit hineinzufühlen, daß er, Verwandtes in sich selbst verleben-
digend, gewissermaßen in die gleichen Schwingungen gerät wie
der Künstler in der Arbeit und nun das Werk in allen seinen
Faktoren sozusagen passiv nachschöpfend reproduziert.“39 An
die Stelle einer kritischen Würdigung tritt das „stille(n) Sichver-
senken“, das „andächtige(n) Hineinlauschen in das Werk“.40
Diese Konstruktion birgt eine ganze Reihe von Problemen in
sich. Das wichtigste benannte der Kunsthistoriker Kurt Glaser,
36) Ernst Barlach 1918 im Gespräch, zit. nach: Schult 1948, S. 26
37) Küppers 1917, S. 212
38) ebd., S. 210. Mit dem gleichen Argument verteidigte Gustav Pauli 1918 den
künstlerischen Nachwuchs, den „Bringer des Neuen“, gegen das ignorante Publi-
kum: „Dieses Neue ist nun aber nichts anderes, als der sichtbar werdende
Seelenzustand des Volkes in seiner Wandlung, das Spiegelbild, ja Antlitz dessen,
was man gemeinhin Zeitgeist nennt.“ (Gustav Pauli, Die Kunst der Gegenwart und
das Publikum, in: Kat. Berlin 1918, S. 21-25; S. 23)
39) Fechter 1914, S. 24. In diesem Sinne ist auch Kandinskys Forderung zu verstehen,
man solle sich „nicht durch Vernunft und Verstand [...] der Kunst nähern, sondern
durch Seele und Erleben.“ (Wassily Kandinsky, Uber Kunstverstehen, in: Der
Sturm 3, 1912/13, S. 157-158; S. 158; vgl. ferner Max Ernst, Kunst und Können,
in: Volksmund, 30.10.1912, abgedruckt in: Kat. Bonn 1979, S. 150f.)
40) Küppers 1917, S. 210
 
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