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Die Qualität der Gesinnung 63

wenn er beklagte, daß der Begriff des „Kunstwollens“ in der
Gegenwartskunst zu einer „Preisgabe jedes Urteils“ geführt habe:
„ Wer den Satz von der Gleichberechtigung jedes Wollens unter-
schreibt, muß schließlich zu dem stumpfsinnigen Jasagen gelangen,
das heut einen nicht unerheblichen Teil der Kunstkritik beherrscht.
Ihm bleibt nur noch das Recht der Analyse, nicht mehr der Unter-
scheidung. Und will er sich einen Rest von Kritik wahren, so sieht er
sich darauf angewiesen, ein , Wollen auf Kosten des anderen zu
verurteilen. “41
Ernst Bloch ging in seiner Kritik sogar noch einen Schritt
weiter. Mit Recht wies er auf die Eigengesetzlichkeiten des Kunst-
werks hin und stellte zugleich die Grundlage der Theorie, die
Kongruenz von Form und psychischer Verfassung, in Frage.
Denn:
„ Was der Künstler erlebte, ist niemals eindeutig aus den Gestalten
seines Werkes zu erschließen. “42
Und polemisch fügte der Philosoph hinzu:
„So wenig wie die Leidenschaft für die Ehe, so wenig scheint das
erregte Ich für die große Schöpfung irgendwie konstituierend zu sein.
[...] Wie man sagen kann, daß die Anwesenheit Roccos in der
Kerkerszene hinreichend erklärt ist, nicht weil Beethoven so sehr die
gutmütigen Kerkermeister als Schwiegerväter liebte, sondern weil er
eine Baßstimme in dem Quartett des zweiten Aktes brauchte, so ist
der seelische Status des Autors jedesmal das Gleichgültigste und
Unableitbarste, das sich überhaupt innerhalb des ganz anders einge-
richteten, in sich selber diktierend und substanziell gewordenen
Bauplans des Kunstwerks vorfinden läßt. “43
Die Verlagerung des Interesses von der Form auf den Inhalt,
vom „Können“ auf das „Wollen“, wie es insbesondere Marc und
Kandinsky propagierten, wurde freilich auch von den Künstlern
nicht ganz widerspruchslos hingenommen. August Macke etwa
meldete Bedenken an, nachdem er in der ersten Ausstellung des
Blauen Reiters Bilder von der Hand des Maler-Dilettanten Arnold
Schönberg gesehen hatte, die er - durchaus treffend - als „grün-
äugige(n) Wasserbrötchen mit Astralblick“44 charakterisierte.
41) Kurt Glaser, Nein zu den „Stimmen des Arbeitsrats für Kunst“, in: Kunstchronik
NF.31, 1919/20, S. 315-317; S. 315
42) Ernst Bloch, Negerplastik, in: Argonauten 2, 1915, S. 10-20; S. 15
43) ebd., S. 15f.
44) Brief an Franz Marc, geschrieben nach dem 23.1.1912 (Macke 1964, S. 99)
 
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