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gelischen Kirche zwei Richtungen klar erkennen — und jeder ihr Recht lassen,
aber auch bei jeder einen Toleranzantrag stellen: Die reinen Intellektualisten,
ich will nicht sagen Rationalisten, ich möchte ohne jede beleidigende Tendenz
sagen, was ich schon lange aus dem Herzen habe — mögen sich einmal.selbst
prüfen, ob nicht doch noch ein Unterton von Naturmystik in ihrer Seele
schwingt? Wo nicht, so mögen sie gerade als reine Intellektualisten die bei
anderen schwingenden, unmeßbaren mystischen Seelenwerte anerkennen und
die für das darstellende Handeln der Religion sich ergebenden Folgen
ziehen lassen.
Diejenigen Elemente unsrer evangelischen Kirche aber, die vielleicht
als Reaktion gegen Intellektualismus, oder als Urbestand ihrer Seele
solche naturmystische Schwingungen ihrer Seele kennen, mögen sich gelassen
Ästheten oder Mystiker heißen lassen und mögen diesen Gefühlen ruhig
nachgehen und lernen, sie zu ästhetischen Formen zusammenzufassen, die
Norm des Protestantismus an ihre religiöse Ästhetik anlegend, die uns
gebietet, in den Symbolen nicht die Sache selbst, nicht das Wunder selbst
zu sehen, sondern nur den Herrn des Wunders — also um konkret zu
sprechen: die Erntegarben und Früchte, die einen Altar am Erntedankfest
zieren, sind nicht ein anzubetendes Wunder, aber sie setzen doch in eine
seelische Beziehung zu dem Gott des Wunders und des Wachsens — durch
das Medium der Erntesymbole, der Früchte der Erde. Aber auch der
Intellektualist, nicht nur der Ästhet, kann sich anregen lassen durch dieses
Medium. Ja, es ist nicht einmal ganz sicher, ob nicht auch der Intellektualist
an diesen Symbolen einen religiös gefärbten Eindruck erlebt, der ihm
unbewußt etwas von der Realität der Wunderwelt verkündet, vor deren
Reich er das verschlossene Tor ausgemauert hat: lAnoramns et iznorabimus.
Auch der Intellektualist wird zugestehen, daß wir das Wunder des Lebens
in seinen Anfängen nicht erklären können und daß auch die Pracht des
Wachstums soviel Wunderbares, exakt wissenschaftlich nicht Begreifbares
enthält, daß wir gerade in einem mit Erntegarben und Baumfrüchten ge-
schmückten Altar am leichtesten wieder Beziehung finden könnten zu der
Wunderwelt der uralten Naturmystik.
Aus diesen Erwägungen heraus scheint mir auch die evangelische
Kirche gut darau zu tun, unbeirrt durch intellektualistische, nüchterne Kritiker,
gerade die Erntefeste in der Kirche wieder mit dem Schmuck der Natur
zu umkleiden. Eine rechte protestantische Gesinnung und Deutung muß
sich von selbst finden oder vom Pfarrer gegeben werden.
Wir vergessen in unsrem Intellektualismus, daß wir zwei wichtige
Elemente der Volkskirche verkümmern und verarmen lassen: Erstens die
Kirchengenossen, die unmittelbar mit der Natur Zusammenleben — die
Bauern — und zweitens die Kirchengenossen, denen die Welt noch voller
von Wundern ist, als uns Alten: die Jugend!
Ist es recht, trotz der seelischen Bedürfnisse dieser wesentlichen Elemente
unsrer Volkskirche, dem prosaischen Intellektualismus die Vorherrschaft ab-
zutreten ?
 
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