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Christliches Kunstblatt für Kirche, Zchule und Haus
Nr. 12

spiel „Verheißung" das edle Einhorn Christus der Jungfrau in den Schoß. Gder
es kommt ein Schifflein gezogen über die stille Flut, geladen „recht uff sin höchstes
port." Vas Schiff ist die hehre Königin, die reiche Last, der Sohn des Vaters,
„der segel ist die Minne, der heilig Geist der Mast."
von rührender Innigkeit sind diese Lieder, keusch und zart, gleich erstem
lvinterreif. Aber wegen ihres mythologischen Beiwerks wurden sie in die Lieder-
sammlungen nicht ausgenommen oder allmählich ausgeschieden. Dieses Reis geist-
licher Poesie ist abgestorben.
Um so schwellender ist der Kranz der kirchlichen Ndventsgesänge, besonders
im evangelischen Gotteshaus. Die Grgel braust mit allen Registern; voll freudigen
Schwungs, voll Klang und Bewegung sind die Ndventsmelodien, nicht wenige
eilen im daktylischen Rhythmus dahin. Das ist nicht mehr die heimliche Offen-
barung des Mystikers, sondern die brausende Freude der Gemeinde. Das Ge-
heimnis, worüber Mönch und Nonne sinnierten, wird zur Seite gelassen. Die
Tatsache, daß der verheißene Heiland kommt, der Gotteszweck seiner Nnkunft,
die Notwendigkeit, ihn würdig zu empfangen, das ist's, was die Gemeinde zum
Singen treibt. Man soll die Türe hoch und die Tore weit machen, die Reichs-
genossen sollen ihrem König entgegengehen, aber die Herzen zuvor bestellen; und
in den Tmpfangsruf mischt sich das Lob Gottes, der sein Mort gehalten hat.
Das sind die echt evangelischen Gedanken unserer Rdventslieder.
So hell ihr Klang ist, so bildet er doch nur die Introduktion zu dem höheren
Thor, von dem das Meihnachtsfest umwoben ist. Tin Sang und Klang und
Jubel ohnegleichen.
Mild gewachsen, rings um die Krippe her, sind die Weihnachtslieder. Später
hat die Gärtnerin Kirche sie in Zucht und pflege genommen. Und eine Wurzel,
unter dem Weihnachtsbaum ins Haus gepflanzt, hat üppig getrieben und das
Lhristgärtlein der Kinder umwuchert.
Der Muttergrund ist die Zeit, in der das Lied von den höhen zum Volke zu-
rückgekehrt war: das XIV. und XV. Jahrhundert; die Keime reichen tiefer hinab.
In der geheiligten Halle hatte das Volk kein Recht, selbständig in den Gottes-
dienst einzugreifen, und die Muttersprache erscholl nur im Worte der predigt.
Um so beliebter waren die Feiern unter freiem Himmel. Bei Wallfahrten, Bitt-
gängen, Umzügen war des Volkes Geist sein eigener Meister. Da wurden deutsche
Lieder gesungen. „Leisen" hießen sie nach dem Kehrwort „Kyrieleis". wenn
der Zug durch das Portal in die Halle trat, drang die deutsche weise auch in
das Kirchengebäude selber ein. Und sie ließ sich nicht mehr verdrängen, sie
eroberte sich einen Platz in der Liturgie, wenn auch nur einen geduldeten. Rn
einer bestimmten Stelle der Messe wurde hier und dort erlaubt, daß anstatt des
lateinischen Liedes der Kleriker ein deutsches Lied des Volkes gesungen werde.
Recht deutlich tritt dieser stellvertretende Charakter in den halblateinischen Ge-
sängen hervor, wo sich lateinische und deutsche Verszeilen auf einander reimen.
Die Geistlichen sorgten selbst für geeignete deutsche Lieder durch Übersetzung
 
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