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Nr.l2
Christliches Kunstblatt für Kirche, Zchule und Haus
361

lateinischer Texte. Und als in der Zeit des erstarkten Volksbewußtseins die
ganze deutsche Nation eine singende wurde, da schwoll auch der geistliche Volks-
gesang mächtig an.
Zur Vermehrung, Erhaltung und eigenartigen Nusprägung gerade des weih-
nachtsliedes haben zwei Volksgebräuche reichlich beigetragen. Der eine ist die
dramatische Lhristfeier auf dem Kirchenvorplatz. Da wurde dem Volk die Weih-
nachtsgeschichte gezeigt. Es sah in den offenen 5tall hinein. Dort war das Rind
in der Krippe, die Mutter und Joseph dabei, Ochs und Esel fehlten nicht.
Dann kamen die Hirten und beteten das Kindlein an, zuletzt die heiligen Herren
aus dem Morgenland, phantastisch aufgeputzt, mit ihrem 5tern und ihren Gaben.
Zuerst war es wohl ein stummes Zpiel, dann wurde es von Gesang und Wechsel-
rede begleitet. Lin beliebtes lyrisches Intermezzo war das „Kindelwiegen".
Zu einer Reihe von Liedern hat es Veranlassung gegeben.
Der andere Volksgebrauch ist aus Luthers Lebensgeschichte bekannt: das
Kurrendesingen armer Kinder um die Weihnachtszeit. Diese Übung erhielt sich
weit über die dramatischen Ehristspiele hinaus, an einigen Orten bis an unsere
Tage, und hat zur Erhaltung der alten Weihnachtsgesänge beigetragen.
was nun den Inhalt dieser Lieder betrifft, so war er teils epischer, teils
lyrischer Natur. Die Geschichte der heiligen Nacht wird ausgemalt. Die Eltern
warten das Kindlein; Rind, und Esel fallen vor ihm auf die Knie. Die Engels-
botschaft an die Hirten wird berichtet, die Huldigung der drei Könige mit Nus-
schmückungen erzählt. -
Oder es wird der staunenden, anbetenden Freude Nusdruck gegeben darüber,
daß des Vaters eingeborener 5ohn als Kind in der Krippe liegt; die Erlösung
wird gepriesen, die Erfüllung dessen, was die Nlten uns sungen.
Zn dem göttlichen Kinde wird kindlich geredet; das süße Jesulein wird will-
kommen geheißen; das Lied fordert auf: „Laßt uns das Kindlein wiegen, das
Herz zum Krippelein biegen;", das Kind wird in den Schlaf gelullt: „susani,
susani", oder „sausa minne, sausa minne". Die Nachtigall wird eingeladen, dem
Kindlein zu singen und mit ihren Federchen sein hartes Bettlein weich zu machen.
Dann kommen die burlesken vreikönigslieder. Nuch in die Geschichte der heiligen
Nacht wagt sich der Humor des Volkes. 5t. Joseph wird zuweilen ein bißchen
spöttisch behandelt. Durch brave Vatertaten tritt er aus seiner Fünftradrolle
heraus. „Joseph nahm ein pfännelein und macht dem Kind ein müselein. Joseph
der zog sein höslein aus und machet dem Kindlein zwei Windelein draus."
5o stand es mit dem Weihnachtslied, als der Mann eingriff, der unter
anderem auch der Reformator des geistlichen Gesanges gewesen ist: Vr. Martin
Luther. Er hat aus dem Holz des religiösen Volksliedes das evangelische Kirchen-
lied geschnitzt, und er hat der geistlichen Musika im christlichen Haus eine Heim-
stätte bereitet. 5o adelte er in doppelter Hinsicht das Weihnachtslied: er hat
es aus einem Gast zu einem Bürger im Gotteshaus gemacht, und er hat es aus
dem verwildernden Treiben der Gasse in die warme Zucht der Familie geführt.
 
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