KUNSTGESCHICHTLICHE EINLEITUNG
XXIX
ausführlichen Studie und in den »Meisterwerken« von 1951 und 1954 waren gleichwohl nicht frei von Hypothesen,
allen voran die bis in jüngste Zeit fortgeschriebene Behauptung einer zur ersten Chorweihe 1405 vollendeten Chorver-
glasung111. Das für die Ulmer Glasmalereiforschung besonders fruchtbare Jahr 1968 brachte schließlich die Zuspitzung
der Kontroverse um den >Meister der Bessererscheibenc Während Wentzel eine Beteiligung des am Berner Passions-
fenster nachgewiesenen Meisters Hans von Ulm an den heimischen Farbfenstern rundweg ablehnte und weiterhin für
Lukas Moser, den Maler des Tiefenbronner Altars, als Kopf der Besserer-Werkstatt eintrat, fand die auf Frankl
fußende Identifizierung mit »Hans Acker, Maler und Glasmaler in Ulm« durch das umfassende, von Wilhelm Lehm-
bruck bearbeitete Handbuch zur Acker-Ausstellung im Ulmer Museum uneingeschränkte Bestätigung und gehört
seither auch zu den festen Überzeugungen der lokalen Geschichtsschreibung10 11. Als völlig unhaltbar erwies sich
dagegen die 1985 im Rahmen einer umfangreichen Monographie über die Bessererscheiben von Claus Reisinger ins
Spiel gebrachte Importthese, derzufolge die westlich geprägten Schöpfungen aus dem Ulmer Kunstkreis ausgeschieden
und einem hypothetischen Buch- und Glasmaleratelier in Brügge zugewiesen worden waren12. Die jüngsten Beiträge
vom Verfasser selbst galten nochmals der »Chronologie der ursprünglichen Chorverglasung des Ulmer Münsters«
sowie der festen Verankerung der Bessererscheiben in der Ulmer Glasmalereitradition; zum einen hervorgegangen aus
einer Magisterarbeit von 1984 an der Stuttgarter Universität, zum anderen bereits Resultat der Bestandsaufnahme für
den Corpusband Ulm und zu dessen Entlastung in einer Vorabpublikation, zusammen mit weiteren ausgewählten
Aufsätzen zur deutschen Glasmalerei des Mittelalters, 1992 erschienen1’.
Die nun vorliegende vollständige Erfassung der in Ulm erhaltenen mittelalterlichen Glasmalereien förderte überdies
bislang unbekannte deponierte Restscheiben aus abgegangenen Langhausfenstern des Münsters zutage, die die Vor-
stellung der einst vorhandenen Vielfalt nicht unwesentlich erweitern.
Historische Voraussetzungen
Seit alters Siedlungsgebiet der Kelten und Alamannen, deren Reihengräberfriedhöfe an verschiedenen Stellen des
heutigen Stadtgebietes ergraben wurden, begegnet der Ortsname Ulm (d. h. »sumpfige Stelle« an der Mündung der
Blau in die Donau) erstmals in einer Urkunde des Jahres 854, »actum Hulmam palatio regio«, ausgestellt in der
königlichen Pfalz zu Ulm, anläßlich eines Hoftages König Ludwigs des Deutschen, und mit diesem Hoftag beginnt
auch die Reihe der nachweisbaren Königsbesuche, die Ulm im 9. Jh. zum wichtigsten Pfalzort des alemannischen
Bereichs aufsteigen ließen14. Die königliche Pfalz, zugleich wohl die eigentliche Keimzelle der späteren Stadtentwick-
lung, war nordöstlich der Blaumündung auf einem natürlichen Höhenrücken — dem heutigen Weinhofsporn — gelegen,
dessen älteste Siedlungsspuren bis ins y./8. Jh. zurückreichen13. Historisch nicht unwahrscheinlich ist auch das frühe,
vom ersten Ulmer Chronisten, dem Dominikaner Felix Fabri überlieferte Gründungsjahr 600 der auf freiem Feld und
in einiger Entfernung errichteten alten Pfarrkirche ennetfeldesX('. Das Patronatsrecht für diese Missions- und Sammelkir-
che an der Ostgrenze des Bistums Konstanz lag wohl seit 813 beim Kloster Reichenau, auch wenn sich die diesbezügli-
che Schenkungsurkunde Karls des Großen, die gleich den gesamten Grundbesitz des königlichen Ortes Ulm der
Reichenau übertrug, inzwischen als Fälschung des 12. Jh. erwiesen hat; Tatsache bleibt dennoch der ausgedehnte,
10 Wentzel, Ratsfenster, 1951, hinsichtlich der übrigen Fenster des
Münsters besonders S. 11-17, und ders., Meisterwerke, 1951, S. 48E,
60—66, bzw. 2i954, S. 50, 61—67.
11 Wentzel, Hans von Ulm, 1968, besonders S. 145—152, bzw. Lehm-
bruck, 1968.
12 Reisinger, 1985; vgl. dazu die Entgegnungen von Becksmann, 1988,
S. 315-321, und Scholz, Tradition und Avantgarde, 1992, S. 93-152.
13 Scholz, Chronologie, 1991, S. 9—71, bzw. ders. (wie Anm. 12).
14 Schlesinger, 1967, S. 9—30; vgl. auch Ursula Schmitt, Villa Regalis
Ulm und Kloster Reichenau, Untersuchungen zur Pfalzfunktion des
Reichsklostergutes in Alemannien (9.—12. Jh.), Phil. Diss. Göttingen
1974, Anhang 1 (Regesten der Königsaufenthalte in Ulm 854—1262), und
zusammenfassend Specker, 1977, S. 35 ff., an dessen Stadtgeschichte sich
der nachstehende kurze Überblick im wesentlichen orientiert.
15 Albrecht Rieber/Karl Reutter, Die Pfalzkapelle in Ulm, Bericht
über die Ergebnisse der Schwörhausgrabung 1953, 2 Bde. Weißenhorn
1974, I, S. 17, 24—26. Ob diese frühen Gebäudespuren und Keramikfun-
de als Zeugen eines alamannischen Herzogshofes oder eines als Stütz-
punkt am alamannisch-bayerischen Grenzgebiet befestigten fränkischen
Königshofes zu deuten sind, ist allerdings umstritten (vgl. Specker,
1977, S. 34).
16 Hassler, 1909, S. 16.
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ausführlichen Studie und in den »Meisterwerken« von 1951 und 1954 waren gleichwohl nicht frei von Hypothesen,
allen voran die bis in jüngste Zeit fortgeschriebene Behauptung einer zur ersten Chorweihe 1405 vollendeten Chorver-
glasung111. Das für die Ulmer Glasmalereiforschung besonders fruchtbare Jahr 1968 brachte schließlich die Zuspitzung
der Kontroverse um den >Meister der Bessererscheibenc Während Wentzel eine Beteiligung des am Berner Passions-
fenster nachgewiesenen Meisters Hans von Ulm an den heimischen Farbfenstern rundweg ablehnte und weiterhin für
Lukas Moser, den Maler des Tiefenbronner Altars, als Kopf der Besserer-Werkstatt eintrat, fand die auf Frankl
fußende Identifizierung mit »Hans Acker, Maler und Glasmaler in Ulm« durch das umfassende, von Wilhelm Lehm-
bruck bearbeitete Handbuch zur Acker-Ausstellung im Ulmer Museum uneingeschränkte Bestätigung und gehört
seither auch zu den festen Überzeugungen der lokalen Geschichtsschreibung10 11. Als völlig unhaltbar erwies sich
dagegen die 1985 im Rahmen einer umfangreichen Monographie über die Bessererscheiben von Claus Reisinger ins
Spiel gebrachte Importthese, derzufolge die westlich geprägten Schöpfungen aus dem Ulmer Kunstkreis ausgeschieden
und einem hypothetischen Buch- und Glasmaleratelier in Brügge zugewiesen worden waren12. Die jüngsten Beiträge
vom Verfasser selbst galten nochmals der »Chronologie der ursprünglichen Chorverglasung des Ulmer Münsters«
sowie der festen Verankerung der Bessererscheiben in der Ulmer Glasmalereitradition; zum einen hervorgegangen aus
einer Magisterarbeit von 1984 an der Stuttgarter Universität, zum anderen bereits Resultat der Bestandsaufnahme für
den Corpusband Ulm und zu dessen Entlastung in einer Vorabpublikation, zusammen mit weiteren ausgewählten
Aufsätzen zur deutschen Glasmalerei des Mittelalters, 1992 erschienen1’.
Die nun vorliegende vollständige Erfassung der in Ulm erhaltenen mittelalterlichen Glasmalereien förderte überdies
bislang unbekannte deponierte Restscheiben aus abgegangenen Langhausfenstern des Münsters zutage, die die Vor-
stellung der einst vorhandenen Vielfalt nicht unwesentlich erweitern.
Historische Voraussetzungen
Seit alters Siedlungsgebiet der Kelten und Alamannen, deren Reihengräberfriedhöfe an verschiedenen Stellen des
heutigen Stadtgebietes ergraben wurden, begegnet der Ortsname Ulm (d. h. »sumpfige Stelle« an der Mündung der
Blau in die Donau) erstmals in einer Urkunde des Jahres 854, »actum Hulmam palatio regio«, ausgestellt in der
königlichen Pfalz zu Ulm, anläßlich eines Hoftages König Ludwigs des Deutschen, und mit diesem Hoftag beginnt
auch die Reihe der nachweisbaren Königsbesuche, die Ulm im 9. Jh. zum wichtigsten Pfalzort des alemannischen
Bereichs aufsteigen ließen14. Die königliche Pfalz, zugleich wohl die eigentliche Keimzelle der späteren Stadtentwick-
lung, war nordöstlich der Blaumündung auf einem natürlichen Höhenrücken — dem heutigen Weinhofsporn — gelegen,
dessen älteste Siedlungsspuren bis ins y./8. Jh. zurückreichen13. Historisch nicht unwahrscheinlich ist auch das frühe,
vom ersten Ulmer Chronisten, dem Dominikaner Felix Fabri überlieferte Gründungsjahr 600 der auf freiem Feld und
in einiger Entfernung errichteten alten Pfarrkirche ennetfeldesX('. Das Patronatsrecht für diese Missions- und Sammelkir-
che an der Ostgrenze des Bistums Konstanz lag wohl seit 813 beim Kloster Reichenau, auch wenn sich die diesbezügli-
che Schenkungsurkunde Karls des Großen, die gleich den gesamten Grundbesitz des königlichen Ortes Ulm der
Reichenau übertrug, inzwischen als Fälschung des 12. Jh. erwiesen hat; Tatsache bleibt dennoch der ausgedehnte,
10 Wentzel, Ratsfenster, 1951, hinsichtlich der übrigen Fenster des
Münsters besonders S. 11-17, und ders., Meisterwerke, 1951, S. 48E,
60—66, bzw. 2i954, S. 50, 61—67.
11 Wentzel, Hans von Ulm, 1968, besonders S. 145—152, bzw. Lehm-
bruck, 1968.
12 Reisinger, 1985; vgl. dazu die Entgegnungen von Becksmann, 1988,
S. 315-321, und Scholz, Tradition und Avantgarde, 1992, S. 93-152.
13 Scholz, Chronologie, 1991, S. 9—71, bzw. ders. (wie Anm. 12).
14 Schlesinger, 1967, S. 9—30; vgl. auch Ursula Schmitt, Villa Regalis
Ulm und Kloster Reichenau, Untersuchungen zur Pfalzfunktion des
Reichsklostergutes in Alemannien (9.—12. Jh.), Phil. Diss. Göttingen
1974, Anhang 1 (Regesten der Königsaufenthalte in Ulm 854—1262), und
zusammenfassend Specker, 1977, S. 35 ff., an dessen Stadtgeschichte sich
der nachstehende kurze Überblick im wesentlichen orientiert.
15 Albrecht Rieber/Karl Reutter, Die Pfalzkapelle in Ulm, Bericht
über die Ergebnisse der Schwörhausgrabung 1953, 2 Bde. Weißenhorn
1974, I, S. 17, 24—26. Ob diese frühen Gebäudespuren und Keramikfun-
de als Zeugen eines alamannischen Herzogshofes oder eines als Stütz-
punkt am alamannisch-bayerischen Grenzgebiet befestigten fränkischen
Königshofes zu deuten sind, ist allerdings umstritten (vgl. Specker,
1977, S. 34).
16 Hassler, 1909, S. 16.