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Beilage zum Diözesan-Archiv von Schwaben — 1891

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https://doi.org/10.11588/diglit.20709#0008
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8

wußten. Von diesen Angen- und Ohrenzengen will Geiger
nichts wissen, die haben für ihn keine Bedeutung. Seine
Fastengeschichte soll eben werden wie ihm dünkt, wie er will,
und dazu braucht er ihm willfährige Zeugen, nnverwerfliche
Angen- und Ohrenzeugen, wenn sie auch nie die gute Betha
gesehen, nie etwas von ihr gehört, nie ihre eigentümlichen
Zustände beobachtet haben. Wer diese Angen- und Ohren-
zengen sind, verschweigt Geiger vorerst, wir werden sie aber
bald des näheren kennen lernen.

Wir heben ans der kritischen Darlegung Geigers weiter
ans: „Die von Kügelin erzählten Leiden, die dämonischen

Anfechtungen, die Verzückungen und Krämpfe, die Stigmatisa-
tion, das merkwürdige Abgehen der Steine, das Anschwellen
(die wunderbare Feistheit), die Fastengeschichte, alles das weist
ans etwas anderes hin. Die gute Betha war krank. Und
jeder Arzt, dem wir den Fall vvrlegen, nennt uns sofort auch
den Namen der Krankheit, als deren Symptome die erzählten
Symptome gelten müssen, die Hysterie." Das ist also des
Pudels Kern.

Hysterie, das ist die Parole, mit der Geiger die Haupt-
schlacht eröffnet. Was ist denn aber eigentlich Hysterie?
Sie ist nach Or. Hermann Klenke, ein vom weiblichen geschlecht-
lichen Nervensysteme ausgehender Reflex ans das Gehirn und.
Rückenmarck und dessen Funktionen, also ans Vorstellungen,
Gefühl und Bewegung. Der berühmte Spezialist Briqnet
läßt das Wesen der Hysterie in zwei Charakteren bestehen,
nämlich in einer außerordentlichen Reizbarkeit des Nerven-
systems unter schmerzhaften Eindrücken und in einer großen
Ohnmacht, gegen diese Afsektionen zu reagieren. Bei der
Hysterie muß man einen bleibenden Zustand und einen Zu-
stand der Anfälle unterscheiden. Im einen wie im andern
Falle giebt es charakteristische Erscheinungen, sei es in der
geistigen, sei es in der organischen Ordnung. Wie steht es
aber mit der Willensfreiheit der Hysterischen? Ihre geistigen
Funktionen sind gestört, aber die Störung, ans der alle
andern hervorzugehen scheinen, ist die Störung des Willens.
„Die Hysterischen," sagt Dr. Huchard, „wissen nicht zu wollen,
sie können nicht wollen, sie wollen nicht wollen." Noch be-
stimmter sagt der auch von Geiger citierte Charles Richet: „Die
Hysterie ist die Ohnmacht des Willens, die Leidenschaften,
d. i. die Triebe des sensiblen Lebens zu zügeln." Kehren wir
nach dieser kurzen Auseinandersetzung zu Geiger zurück. Man
muß es zum wenigsten gesagt kühn nennen, wenn er die ganz
allgemeinen Erörterungen seiner Augen- und Ohren-
zengen über die Krankheit der Hysterie und ihre ebenfalls
allgemein gehaltenen Angaben über die Symptome und Erschei-
nungsformen der genannten Krankheit speziell ans die gute
Betha anwendet. Seine Augen- und Ohrenzengen Charkot,
Jvlly, Richet und Nippold, die im 19. Jahrhundert lebten,
laßt er im 15. Jahrhundert an das Krankenlager der guten
Betha treten, damit sie nach seinem gemachten Krankheitsbilde
die Diagnose auf Hysterie stellen. Und worauf stützt er sein
Krankheitsbild, nicht auf die Berichte derer, die mit der guten
Betha jahrelang täglich in trautem Verkehr standen und ihr
leibliches und ihr geistiges und geistliches Leben aufs genaueste
kannten, sondern in Eingenommenheit auf die allgemeinen Er-
örterungen derer, die er durch Suggestion an das Kranken-
bett der Nonne in Rente schickt in der Voraussetzung, sie
werden seine Diagnose ans Hysterie bestätigen. So unvor-
sichtig und so sicher in seinem Urteil über die Natur der
Krankheit, wie Geiger, ist aber kein Arzt, daß er ans allge- I

mein gehaltene Angaben hin seine Diagnose stellt und dar»^
sein Heilverfahren einrichtet. Die Fälle sind nicht so j^11'
daß insbesondere bei Angabe der mit andern Krankheiten 31!'
sammentreffenden Symptome der Arzt ans eine irrige Diag»^
gekommen ist und erst durch die Untersuchung und dun
die Beobachtung des Krankheitsverlanfes des Patienten sich ü01
seiner Irrung überzeugt hat. Nun, die gute Betha, die ^
mehr als 400 Jahren gestorben ist, läßt sich nicht mehr shh
tersuchen, ihr KrankheitSznstand nicht beobachten, es läßt !>(
kein sicheres Urteil über die Natur ihrer Krankheit bilden 111,1
keine richtige, unverwerfliche Diagnose feststellen.

Wenden wir nun unsere Aufmerksamkeit den Sympte"1^
der Hysterie zu. Geiger sagt: „Das scheinbar so wnn^Z
bare Fasten ist als hysterische Anorexie (Appetitlosig^^
wohlbekannt." Er beruft sich hiefür
Ohrenzeuzen nicht der gnteir Betha,
hysterischer Kranken, auf Or. Charkot.

sondern

Dieser

t)

auf einen Angen- ^

ungenau-^

sagt: J

Kranken essen nicht, sie wollen, sie können nicht essen, vbn^.
sich kein mechanisches Hindernis für die Beförderung Z
Speisen in den Magen und kein Hindernis für ihren Derb
daselbst, wenn sie einmal eingeführt sind, findet. Mitun ^
aber durchaus nicht immer, wie man geglaubt hat, ernay
sie sich heimlich, und obwohl die Eltern selbst diesem 23^^
Vorschub zu leisten pflegen, indem sie die sonst von 1
Kranken bevorzugten Speisen so hinstellen, daß sich die
ihrer unbemerkt bemächtigen können, bleibt doch die Ernährst,
eine ungenügende. Man wartet Wocheil und Monate ab
der Hoffnung, daß sich das Verlangen nach Speise >vN
regen werde, aber flehentliche Bitten wie Drohungen
an ihrem Widerstande. Mit der Zeit bleibt die AbmagH.
nicht ans und erreicht eine wirklich außerordentliche
die Kranken sind ohne Uebertreibung nichts als leb
Skelette." . (1

Wir konstatieren, daß die Berufung Geigers auf F ^
Augen- und Ohrenzeugen Or. Charkot bezüglich des
baren Fastens der guten Betha als hysterische Anorexie ,,
nahe in jeder Zeile des anaernfenen Zeugen widersp1'^

nahe in jeder Zeile des angernfenen Zengeil
Wir treten den Beweis an. Die Kranken essen nicht,
beweist Geiger, daß die gute Betha dies unfreiwillig g.J^'

, -U"/ M - U -7.I v /Uß

sie aß nicht, weil sie ihren freien Willen dem Willen ^
unterwarf,

weil sie dem Befehle Gottes gehorchte, deslv^^

war sie nicht hysterisch, denn die Hysterie schließt die 2L
freiheit

dt1

ans; die Hysterischen, wie wir von Kennern ^
Hysterie gehört haben, wissen nicht zu wollen, sie können
wollen, sie wollen nicht wollen. Die gute Betha wollte^,^,,
essen, das geht sowohl aus ihrem Gehorsam gegen den -^tt
Gottes sowie aus der Darstellung Kügelins, wonach l,e jii
ans bestimmten Gründen bat, seinen Befehl zeitwer w ^
suspendieren, hervor. Hier kann von keiner Ohnnwch ^
Willens, die Leidenschaften zu zügeln, in der nach
Wesen der Hysterie besteht, und darum auch nicht von^'^i»
die Rede sein. Auch bei der guten Betha fanddck
mechanisches Hindernis für die Beförderung der Speisest fceir
Magen und kein Hindernis für ihren Verbleib dasellstt,
noch kamen die Speisen der guten Betha nicht in ihren
und verblieben nicht daselbst, aber nicht, weil sie nlch ^
konnte, sondern weil sie der Wille Gottes am Essen 9*.^jit
weshalb sie auch die genossenen Speisen roh und nn'
ansbrach, so beim Gerstenmns lmb bei den Fischlein.

(Fortsetzung folgt.)

Stuttgart, Buchdruckerei der Aktiengesellschaft „Deutsches Bolksblatt".
 
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