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zerrissen. Beide Theile hatten ihr Recht, beide Thcile hatten ihr Unrecht,
beide ließen sich zu Uebertreibungen Hinreißen in der Hitze des Gefechtes,
weil es ihnen au wahrer Kritik mangelte, und vor Allem an der Ruhe und
Klarheit des Bewußtseins, um sie würdig zu üben.

Larochefoucauld, Direktor der „eoole de8 Beaux-Arts“, trat zwi-
schen die streitenden Parteien und suchte den kühnen Neuerer zu belehren, der
ihm jedoch keck antwortete: „Die ganze Welt wird mich nicht hindern,
die Dinge nach meiner Art zu sehen." — Dieses „nach seiner Art
sehen" ist nicht allein für Delacroix, sondern überhaupt für das Wesen
der Künstler sehr bezeichnend. — Leider führt es oftmals ebenso zur Ver-
leugnung des Kunstschönen als des Naturwahren, für welche Verleugnung
die Werke Delacroix's, bei aller Genialität, vielfache Beweise liefern.

Ans den Index des Ministeriums gesetzt und der Arbeiten beraubt, legte
sich Delacroix auf das Lithvgraphiren. Die erste seiner beiden Folgen
erschien in den Jahren 1825 bis 28, und enthalt die Reliefs, Medaillen und
antiken Gemmen und Cameen des Herzogs von Blacas. Die zweite Folge
dieser Lithographien sind Illustrationen zu Göthe's „Faust", von denen der
Dichter selbst sagte: „Ich finde in ihnen vollständig die Eindrücke meiner
Jugend." —

Mit der Revolution von 1830 stieg die Thätigkeit und das Ansehen
des Künstlers. Die neue Dynastie, beflissen auch durch die Künste sich bal-
digst verherrlichen zu lassen und so zu popularisiren, bestellte zwei Gemälde
bei Delacroix „Jemappes" und „Balmy", gleichsam eine doppelte Apo-
theose des „Bürgerkönigs"; allein der Künstler, noch tief ergriffen von den
Scenen des 29. Juli, zog es vor, eine Barrikade zu malen, welche von der
Freiheit, die nationale Trikolore in der Hand, erstürmt wird. Wie hätte cs
anders sein können, als daß dieses Bild allgemeine Sensation machte, da °es,
der Macht des Augenblicks entsprungen, ebenso dem Geiste der Freiheit, als
des Nationalbewußtseins schmeichelte. Auguste Barbier, ein dem Maler
innigst geistverwandter Dichter, verherrlichte das Werk sogleich in einem Ge-
dichte, welches diese „Borts komme“ besang. Der Sieg war entscheidend,
Delacroix hatte den richtigen Punkt getroffen. Seine „libsrts" ward vom
Staate angekauft, jedoch in die dunkeln Korridors des Louvre verwiesen. So
schmeichelte einerseits Louis Philipp der öffentlichen Stimme, blos um sie
andererseits zum Schweigen zu bringen. — Im Jahre 1831 ward sogar
Delacroix, um ihn zu entfernen, einer kleinen Gesandtschaft nach Marokko
beigegeben an den Fürsten Abd-cr-Rahman. Das Leben des Orients
machte aus den phantasiereichen, feurigen Künstler einen tiefen Eindruck. Eines
seiner besten Werke, „die jüdische Hochzeit in Marokko'', verdankt diesen Rei-
sen und Studien seine Entstehung.

Nach Frankreich zurückgekehrt, arbeitete er in den Jahren 1832 bis 55
mit einem ebenso unermüdlichen Eifer, als mit einer seltenen schöpferischen
Kraft und Fülle des Geistes und der Phantasie, welche seine hohe Begabung
in das glänzendste Licht stellte. lieber mehre seiner bedeutendsten Werke, welche
sein Kunstwesen besonders charakterisiren, weiter unten. Hier seien von feinen
monumentalen Werken wenigstens genannt die Wandgemälde im „salou du
roi“, in der Bibliothek des Luxembourg, der Deputirtenkammer, im „salou
ds la paix“ des Stadthauses in Paris, der Apolloplafond im Louvre und
die drei Skizzen für die „ellapelle des Saints-Anges“ in der St. Sulpice.

Des Künstlers Brust durchglüht das verzehrende Feuer einer nie rasten-
den Schöpfungskraft der Phantasie und des Willens. Kaum gedacht, stehen

auch seine Gestalten, ob klein, ob groß, mit der Feder oder dem Pinsel, auf

dem Papier und der Leinwand. Das dramatische Leben des Ganzen, der
Strom der Handlung, welche den Beschauer sogleich erfaßt und mit sich fort-
trägt, bilden das innerste Wesen aller seiner Werke. Prüft man jedoch die
Gestalten und Dinge im Einzelnen, so zeigt sich eine Formlosigkeit, die zu-
weilen in Monstruösität ausartet. Anstatt Contoure zu zeichnen, verbirgt er
sie unter dem Schwünge des Pinsels, anstatt Formen zu modelliren, löst er
sie auf in dem Gusse des Kolorits. Der allgemeine, faßbare, ergreifende Aus-
druck der Idee und der Empfindung ist das Hauptziel alles seines Strebens.

Mit den Details befaßt er sich so gut wie gar nicht. Sein leidenschaftliches,
gebieterisches Temperament drängt ihn von Einem zum Andern, ohne sich
bei Allem lange aufzuhalten. Diese Fülle der Phantasie, diese Regsamkeit
des Geistes, diese Schöpfungskraft der Energie und des dichterischen Genies
wird durch ein seltenes und glänzendes Farbentalent unterstützt. Weder eigent-
licher Historien-, noch Genremaler, ist er so recht der Maler des Pittoresken.
Delacroix ist eine dichterische Natur, die meisten und besten seiner Werke
sind Dichtungen in der Auffassung wie in der Farbe, die vermöge ihres
feurigen, gleichsam dämonischen Wesens aller traditionellen Schranken spotten.
Hat auch die Kritik alle diese hohen künstlerischen Eigenschaften anzuerkennen,
die mit ihnen verknüpften Untugenden der Leichtfertigkeit, Keckheit und Will-
kür hat sie entschieden zu rügen.

Die nicht unwesentliche Uebereinstimmung dieser Künstlernatur mit dem
allgemeinen nationellen Charakter der Franzosen verschaffte ihr im Publikum
eine Anerkennung über Gebühr. Der Franzose verlangt nun einmal von
den Werken der Kunst vor Allem Esprit, Poesie: Dinge, die Niemand un-
serem Künstler absprechen kann. Da sie aber nicht eben großer Studien und
technischer Hilfsmittel bedürfen, so verfallen viele französische Künstler der
Leichtfertigkeit und Flüchtigkeit in dem Maaße, daß ihre Malereien oftmals
nur für Skizzen gelten können; ein, Vorwurf, der auch Delacroix trifft.

Thätig bis zur Erschöpfung, betrachtet er die Malerei als eine Herrin,
der man sich ganz und ungetheilt weihen müsse. Um diesem Thätigkeitsdrange,
der zuweilen in eine wahre Arbeitswuth ausartet und gleichsam mit Heißhunger
Alles zu verschlingen droht, ungestört nachgeben zu können, hat er sich seit
einer Reihe von Jahren von der Welt zurückgezogen. Seine Liebe zur Ein-
samkeit ist bereits so herrschend in ihm geworden, daß er sich zeitweise gänz-
lich abschließt mit seinen Büchern und Zeichnungen in seinem kleinen Land-
hause in Champrozai bei Versailles. — Außer Marokko hat er später nur
noch England und Spanien bereist. Rom hat er niemals besucht, ungeachtet
der freundlichen Aufforderungen von Gros, der ihm gern Gelegenheit ge-
geben hätte, sich den „Premier grand Prix de Rome“ zu erwerben. Allein
Delacroix erbebt schon bei dem Gedanken, unter dem Einflüsse eines An-
deren stehen und arbeiten zu müssen. Seine unruhige, stolze Natur findet
nur ihr Genüge in sich selber.

Wie schon die Ansichten, Grundsätze und Urtheile Ingres' einen Maaß-
stab abgeben für seine eigene Kunstrichtung und Eigenthümlichkeit, so auch die
Delacroix'. Während Jener die Künstler, in Beziehung auf das Kolorit,
vor Rubens warnt und höchstens das Titian's empfielt, erhebt dieser
den großen Antwerpener zum höchsten Vorbilde. „Rubens, Rubens ist
der König der Maler. Er ist groß wie Homer, und, gleich ihm,
beseelt er Alles, was er berührt, mit einem Zuge. Empfindet
man einen heiligen Schauer bei der Lektüre der Ilias, und zwar
vor Allem bei der Schilderung des Kampfes zwischen Hektor
und Achilles, so zieht sich das Herz krampfhaft zusammen vor
dem Bilde Rubens, auf welchem der römische Krieger mit seiner
Lanze die Seite des Heilandes durchbohrt. Es liegt in diesem
Lanzenstiche eine Gewalt des Eindrucks, eine homerische Macht,
die ich stets fühlen werde." — Ingres studirt sorgsam und prüfend
nach allen Richtungen hin die Werke der Kunst, Delacroix ergiebt sich so-
gleich dem vollen Eindrücke ihres pulsirenden Lebens und stürzt sich in die
Tiefe ihrer Seele. Was er an Rafael vor Allem schätzt und hervorhebt,
ist „I'arabe8que de ligne.“ — „Er allein besitzt die Verschmel-
zung der Linien und des Ausdrucks, vereint mit dem Gefühle
der Grazie, wie mit der Macht der Idealität." —

Wollen wir Delacroix seinem ganzen Kunstwesen nach in die verschie-
denen Richtungen, Phasen und, sozusagen, Systeme der Kunst, die zugleich
auch Phasen und Systeme des menschlichen Geistes an und für sich sind,
einreihen und klasstsiciren, so ist er entschieden Romantiker, und zwar Hyper-
romantikcr, und nimmt in der Malerei etwa die Stelle ein, welche Viktor
Hugo in der Belletristik behauptet, obgleich zwischen beiden der Unterschied
besteht, daß dieser weit mehr die Bedeutung der Idee und Form achtet als
jener. Das Wesen der Romantik und des Romanticismus ruht aber vor-
nehmlich in der bloßen Subjektivität des Gefühls, in der Willkürherrschaft
des persönlichen Beliebens und Gutachtens, in der Zügellosigkeit des eignen
Sinnes, des eignen Geschmacks, der besonderen Neigung. Der Romanticis-
mus und der Romantiker geräth daher auf Tritt und Schritt, und in jeder
Sphäre des Lebens, in den schärfsten Konflikt mit den Prinzipien der Logik
und Philosophie, den Gesetzen der Natur, den Mächten der Wirklichkeit. —
Diese Hintenansetzung der Naturwahrheit, der Schönheitsgesetze, der Stil-
formen, ja, der Linien selber, die selbstgefällig und launenhaft zusammenmalt,
rein aus dem subjektiven Gefühle, aus dem eigenen Geschmack und Belieben
heraus, beweisen mehr oder minder die meisten Werke Delacroix'. Sie
bilden einen Gegensatz zu Allem, was Spiritualismus, Idealismus, Klassi-
cismus, Formalismus, ja sogar oftmals, was Realismus und Naturalismus
heißt. Kühn und wild, als ächter Romantiker, streift sein hochpoetischer Sinn
und Genius iu's Freie und Blaue hinaus, ergreift und thut Alles, was ihm
behagt und wie es ihm behagt, wirft Alles mit kecker Verachtung bei Seite,
was seinem Eigensinn und Eigengefühle nicht zusagt, und gefällt sich in den
sonderbarsten Tönen und Skalen der Farben, wie in den wunderlichsten und
wildesten Sujets. Hatte die Natur Ingres' und Delacroix' in Eines
zusammenschmelzen können, es würde einen der ersten Künstler aller Zeiten
gegeben haben. So viel zur allgemeinen kritisch-historischen Keuntniß dieses
bedeutsamen Phänomens in der modernen Kunst Frankreichs.
 
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