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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 10.1902

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Rilke, Rainer Maria: Sonderheft: Heinrich Vogeler - Worpswede
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https://doi.org/10.11588/diglit.6695#0020
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302

Rainer Maria Rilke— Westerwede :

HEINRICH VOGELER.

Ex libris. Feder-Zeichnung.

Ungeduld, der Tag, die Zeit. Durch die
Zeitungen ist die Zeit die Beurteilerin von
Kunst-Werken geworden und niemand sonst
ist wie sie ungeeignet, dieses schwere Amt
auszuüben. Kunst-Werke sind in so vielen
Fällen ein Widerspruch gegen die Zeit, und
wo sie ihr einmal einen Moment zustimmen
und mit ihr gehen, da ist die Zeit unzeitlich
geworden, und ist, durch eingesprengte
Adern von Grösse, jener Ewigkeit entfernt
verwandt, von welcher die Werke der Kunst,

alle ohne Ausnahme, Zeugnis geben. Die
Zeit, welche noch jedesmal die Menschen,
die sich aus ihr erhoben, falsch beurteilt
hat, diese Zeit sollte den Kunst-Werken, die
in ihr entstehen, mit einem täglichen, raschen
Urteil gerecht werden können? Alles, was
über sie irgendwie hinausragt, entzieht sich
ihrem Einsehen, alle bedeutenden Menschen,
die heute da oder dort aufstehen, einsam
oder versunken in den dumpfen Tumulten
der atemlos wachsenden Städte, sind Un-
bekannte, sind zukünftige Menschen, deren
Zeit erst sein wird, und um die das Heute
mit seinem Urteil, mit seinem Lob oder
seinem Hohn, wie eine Vergangenheit flutet,
die sie nicht berührt. Und die Kunst-Werke,
die noch dauernder sind als die unzeitgemässen
Menschen, stehen noch unberührter da, wie
in tiefem Schlafe, — zukünftige Dinge. —
Da wir nun doch neben ihnen leben,
ihnen begegnen und den Raum unter den
Sternen mit ihnen teilen, müssen wir zu
ihnen auch irgend ein Verhältnis haben,
irgend eine Art von Verkehr muss sich
ausbilden, wenn wir nicht einfach mit ge-
schlossenen Augen daran vorübergehen
wollen. Es gibt Menschen, die das instinktiv
thun und sie sind viel gerechter gegen die
Kunst-Dinge, als jene, die glauben, sie mit
ihrem Urteil erreichen zu können, mit dem
sie sich von ihnen nur noch mehr trennen.
Kunst-Werke, als Dinge, die nicht der Zeit
gehören, sind am verwandtesten den Bäumen
und Bergen, den grossen Strömen und den
weiten Ebenen, die die Zeit auch nur umgibt,
ohne ihnen wohl oder wehe zu thun, und an
die mit einem Urteil heranzutreten, das zu- ode
abspricht, mit einem gut oder schlecht, ebenso
nutzlos wie albern wäre. Das einzig richtige
Verhältnis zu ihnen, das einzige, das wirk-
 
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