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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 10.1902

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Rilke, Rainer Maria: Sonderheft: Heinrich Vogeler - Worpswede
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https://doi.org/10.11588/diglit.6695#0022
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3°4

Rainer Maria Rilke — Westerwede :

sich, es füllt sich aus, es ordnet sich, es lässt
immer deutlicher die Gesetze erkennen, die
über ihm herrschen, — kurz: es macht Ent-
wicklungen durch, die jene anderen Bilder,
welche sich immer noch ausdehnen, vielleicht
nie erreichen werden. Es ist kleiner als sie,
aber es ist glücklicher und zugleich fertiger,
wie der Ameisenbau und der Bienenkorb
glücklicher und fertiger sind als die Reiche
Alexanders und Napoleons. Wenn der Zug
unserer Zeit dahin geht, eine Vereinigung
von Kunst und Leben zu schaffen (eine
Synthese, die vielleicht einmal einer sehr
entfernten Zukunft im Grossen gelingen
wird), so ist es bezeichnend für sie, dass sie
über vielen Poseuren den einen aufrichtigen
und echten Künstler nicht sieht, der in

-HEINRICH VOGELER—WORPSWEDE.

Ex libris. Radierung.

einem etwas unterlebensgrossen Bilde, wie
in einem Gleichnis, absichtslos Kunst und
Leben fortwährend und täglich zusammen-
fasst, — dass sie Heinrich Vogeler nicht
sieht, der ihr eine Erfüllung sein müsste,
wenn sie überhaupt reif für Erfüllungen
wäre. Man wird mir entgegnen, sie sähe
ihn, — man wird auf die Bekanntheit hin-
weisen, um nicht zu sagen Berühmtheit, die
dieser Maler seit Jahren geniesst und mit
der grossen Verbreitung, die sein radiertes
Werk gewonnen hat, wird man mich zu
widerlegen suchen. Aber, ehe ich weiter
fortfahre, muss ich eines thun: ich muss den
vielen Verehrern, die Heinrich Vogeler für
sich in Anspruch nehmen, sagen, dass er
nicht ihnen gehört, dass sie ihn gar nicht
meinen und kennen und dass
sie sich überhaupt benommen
haben, wie naschhafte Kinder,
die von eingemachten Früchten
nur den Zucker ablecken und
die Früchte, die lange nicht so
süss sind, nach einem neu-
gierigen und enttäuschten Ver-
such stehen lassen. Und dass,
besonders auf den früheren Ge-
richten aus seiner Küche, sehr
viel Zucker war, das hat sie
angelockt, und hat auf ihre
süssen Zungen den Namen
Heinrich Vogeler's gelegt, der
ihnen immer geläufiger wurde.
Da war ein sogenannter »Mo-
derner«, ein Worpsweder, der
sich gar nicht so fremd und
unartig und unverständlich be-
nahm, wie die anderen »Mo-
dernen«, ein Märchen - Maler,
etwas eigenwillig zwar und
merkwürdig, aber gerade nur
so viel als not thut, um nicht
langweilig zu werden. Aus
dieser Stimmung entstand Hein-
rich Vogeler's Bekanntheit, und
sein Ruhm ist wie die meisten
Ruhme ein Missverständnis, das
von ihm nehmen muss, wer sein
Freund ist. Und von diesem
Heinrich Vogeler, diesem Un-
 
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